Der Rückzug des Todes

 

 

DER EPIDEMIOLOGISCHE ÜBERGANG IN DEUTSCHLAND

WÄHREND DES 19.  UND 20. JAHRHUNDERTS*)

 

 

Die gesellschaftliche Bedeutung des säkularen Sterblichkeitsrückgangs

 

Seit dem Beginn der amtlichen Statistik um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist in den westlichen Industrieländern die durchschnittliche Lebenserwartung (von Kriegsjahren abgesehen) ständig angestiegen. Betrug sie bei der Gründung des Deutschen Reiches noch rd. 36 Jahre bei Männern und 38 Jahre bei Frauen, so ist sie inzwischen bei Männern auf rd. 78 Jahre und bei Frauen auf rd. 83 Jahre angestiegen. Sie hat sich also bei beiden Geschlechtern während dieses Zeitraums mehr als verdoppelt. Dieser Entwicklung liegt vor allem ein drastischer Rückgang der Säuglingssterblichkeit seit dem frühen 20. Jahrhundert zugrunde und ein etwas weniger ausgeprägter Sterblichkeitsrückgang bei Kindern und Jugendlichen. Wenig verändert hat sich die Sterblichkeit im Reproduktionsalter. Ein merklicher Rückgang der Sterblichkeit fand jedoch auch in den Altersklassen über 60 Jahre statt. Man kann diesen Sachverhalt so umschreiben: Die gewaltige Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung bedeutet vor allem, dass Menschen, einmal geboren, bis auf wenige Ausnahmen ein langes Leben vor sich haben. Dagegen hat sich das Leben für alle diejenigen, die Kindheit und Jugend hinter sich haben, nur unwesentlich verlängert.

 

Von größter Bedeutung ist nun aber, dass das Leben für die meisten Menschen etwa gleich lang geworden ist. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, in denen der Tod  zwar seine stärkste Beute unter Säuglingen, Kleinkindern und alten Menschen holte,  jedoch auf allen Lebensaltersstufen spürbar seine Sense schwang, rafft er heutzutage die bei weitem meisten Menschen zwischen dem 75. und 85. Lebensjahr  dahin. Es fand demnach eine extreme Konzentration des Sterbealters statt. Der Tod hat sich nicht nur aus Kindheit und Jugend weitgehend zurückgezogen, sondern überhaupt aus den Altersstufen bis zum 70. Lebensjahr. Und da diese Entwicklungstendenzen für den bei weitem größten Teil der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern gelten, muss demnach auch die soziale Ungleichheit vor dem Tod, die noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert sehr ausgeprägt war, stark zurückgegangen sein. Mehr und mehr sind die Menschen somit vor dem Tod tatsächlich alle gleich.

 

Die Ursachen für diese global beschriebenen Veränderungstendenzen sind zunächst in grundlegenden Wandlungen des Sterblichkeitsgeschehens zu sehen, oft bezeichnet als Wandel des Krankheits- und Todesursachen-Panoramas. Viele Krankheiten sind aus den westlichen Industrieländern ganz verschwunden; andere haben ihren Charakter verändert; einige konnten unter gesellschaftliche bzw.  medizinische Kontrolle gebracht werden. Wieder andere Krankheiten sind dagegen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Vormarsch. Diese Entwicklungen und ihre Ursachen werden im Folgenden unter dem Oberbegriff Epidemiologischer Übergang dargestellt.

 

*) Leicht bearbeitete Version der unter demselben Titel erfolgten Veröffentlichung im Konstanzer Universitätsverlag, Konstanz 1992 (Konstanzer Universitätsreden H. 186). Mit Rücksicht auf die ursprüngliche Form als Vortrag wurde auf Fußnoten verzichtet. Diese finden sich in dem Reprint in: Historical Social Research – Historische Sozialforschung, Vol. 23 (1998), No. 1/2, S. 4-43. Dort sowie in der ursprünglichen  Veröfffentlichung auch die Tabellen und Schaubilder des Anhangs, der hier leider nicht sichtbar gemacht werden kann.

 

 

Worin besteht die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung dieses Übergangs? Die Bedeutungsaspekte sind so vielfältig, dass nur auf einige schlagwortartig verwiesen werden soll. Da ist zum einen der Aspekt, der derzeitig Mentalitätshistoriker wie Arthur Imhof beschäftigt, dass nämlich die meisten Menschen mit einer gesicherten Lebensspanne von etwa 80 Jahren rechnen können. Für immer mehr Menschen wird deshalb das Problem eines Lebensplans, einer Aufgabenstellung für verschiedene unterscheidbare Lebensphasen, wichtig. Besonders gilt das für die ständig länger werdende Phase nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Da diese Phase wiederum für die  meisten Menschen, zumindest in Deutschland, durch das Sozialversicherungssystem  und staatliche Fürsorge- bzw. Pensionskassen finanziert wird, die sich aus Beiträgen  und Steuerleistungen der aktiv Erwerbstätigen alimentieren, liegt die  wirtschaftliche Bedeutung der Sterblichkeitsveränderungen auf der Hand:  Tendenziell wächst der Bevölkerungsanteil der zu Finanzierenden stetig, während  entsprechend der Bevölkerungsanteil der Finanziers zurückgeht. Dies Problem erscheint um so gravierender, wenn man sich klarmacht, dass nicht nur die verlängerte Lebensphase nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben der Unterstützung bedarf, sondern auf der anderen Seite auch die sich für immer mehr Menschen deutlich ausweitendende erwerbslose Ausbildungsphase in Kindheit und Jugend.

 

Ein weiterer Problemaspekt ist darin zu sehen, dass sich zwar das durchschnittliche Sterbealter nach hinten verschoben hat, ohne dass jedoch die letzten Lebensjahrzehnte etwa frei von Krankheit wären. Vielmehr beinhalten die Veränderungen des Krankheits-Panoramas in den höheren Lebensaltern vor allem eine Zunahme der sogenannten Multi-Morbidität. Es könnte bei oberflächlichem Hinsehen so scheinen, als ob wir immer länger leben, um uns immer längere Phasen des Lebens mit Krankheiten zu plagen. Auch die Zunahme der Pflegebedürftigkeit wirft, speziell unter den modernen gesellschaftlichen Bedingungen, große Probleme auf – Stichwort: Pflegeversicherung.

 

Die vielen Lebensjahrzehnte, die die meisten Menschen, von gravierenden

Krankheiten und von Todesbedrohung befreit, durchleben können, werfen ebenfalls Probleme auf. Die Aufforderung zur Entwicklung eines Lebensplans betrifft keineswegs nur das höhere Lebensalter. Angesichts der Unverbindlichkeit der großen sinnstiftenden Wertsysteme und Ideologien in der modernen Gesellschaft stellt sich für immer mehr Menschen bei wachsendem Wohlstand, rückläufigen Arbeitsbelastungen und zunehmender Freizeit drängend die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Tatsache, dass man über seine körperlichen und geistigen Kräfte jahrzehntelang beschwerdefrei verfügen kann, ohne ein generell akzeptiertes, verbindliches Ziel vorgegeben zu finden, unterwirft viele Menschen einem Begründungszwang, dem sie kaum gewachsen sind: Was soll ich mit meinen Kräften tun? Wem nützt das? Wohin führt das alles? Wahrscheinlich hat der ständig wachsende Anteil psychotherapeutisch behandlungsbedürftiger Menschen in unseren Gesellschaften mit dieser belastenden Sinnfrage zu tun. Die Bedeutung der langfristigen Veränderungen des Krankheits- und Sterblichkeitsgeschehens erschöpft sich natürlich keineswegs in den genannten Problemen. Vielmehr sollte die positive Kehrseite ausdrücklich erwähnt werden. Sie ist in einer Zunahme der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der Erwerbsbevölkerung zu sehen, deren Beitrag zur Steigerung der

gesamtwirtschaftlichen Produktivität und zum Wachstum des Sozialprodukts bisher noch nicht befriedigend gemessen worden ist. Die enorme Zunahme krankheits- und schmerzfreier Lebensjahre, die Verlagerung der Todesbedrohung in ein hohes Lebensalter bedeuten eine generelle Zunahme von Lebenschancen. Immer mehr Menschen ist es für immer längere Zeit ihres Lebens möglich, ihr körperliches, geistiges und seelisches Potenzial zu entwickeln und auszuleben und somit in einem modernen Sinne glücklich zu sein.

 

Im Folgenden sollen nun die großen Veränderungen des Krankheits- und Sterblichkeitsgeschehens unter dem Oberbegriff Epidemiologischer Übergang konkreter nachgezeichnet werden. Die Phasen dieses Übergangs und die jeweiligen wichtigsten Merkmale werden dargestellt. Anschließend sind die Erklärungsansätze zu skizzieren, die derzeit international diskutiert werden. Dabei wird besonderes Gewicht auf die Untersuchungen gelegt, die die deutschen Verhältnisse betreffen.  Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, ob denn die Deutschen nicht nur durchschnittlich immer länger leben, sondern auch langfristig gesünder geworden sind.

 

 

Globale Entwicklungslinien

 

Der langfristige Sterblichkeitsrückgang hat natürlich in den westlichen Industrieländern durchaus keinen einheitlichen Verlauf gehabt. Dennoch kann man, wenn man von den Details genügend abstrahiert, eine Art Modellverlauf behaupten, den James Riley wie folgt charakterisiert hat: Nach 1670 begannen in  Europa und Nordamerika (mit Varianten hinsichtlich des Beginns von einer größeren Region zur anderen) die rohen Sterblichkeitsziffern zu fallen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die Sterblichkeit von ca. 30 bis 40 pro Tausend auf ca. 10 pro Tausend gefallen. Dieser säkulare Sterblichkeitsrückgang fand in zwei Phasen statt. Die beiden Phasen waren durch ein Plateau erneut gestiegener Sterblichkeit während des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts getrennt, als die ersten großen Urbanisierungswellen auf die demographische Entwicklung durchschlugen. Diese Beschreibung trifft auch auf Deutschland zu. Während der 1820er bis 1840er Jahre sank die Sterblichkeit, der Wiederanstieg fand während der 1850er und 1860er Jahre statt, seit Mitte der 1870er Jahre fiel die Sterblichkeit dann trendmäßig bis zur Gegenwart. Unklar ist allerdings, wie sich die Sterblichkeit im 18. und frühen 19.  Jahrhundert entwickelte. Die kürzlich von Arthur Imhof vorgelegten Schätzungen der Lebenserwartung zwischen 1740 und 1850 in verschiedenen deutschen Regionen lassen allerdings den Schluss zu, dass in Deutschland spätestens seit den  1770er Jahren ein langfristiger Sterblichkeitsrückgang stattfand, der demnach erst  um die Mitte des 19. Jahrhunderts für einige Jahrzehnte unterbrochen wurde.  (Vgl. SCHAUBILD 1 im Anhang)

 

Zuverlässiger sind die entsprechenden Angaben für die USA und England. Hier wurde während der 1970er und 1980er Jahre ein neuer Indikator erarbeitet: die langfristige Veränderung der durchschnittlichen Körpergröße von Menschen. Entsprechende Massendaten fielen vor allem beim Militär an, darüber hinaus in größerem Umfang beim Sklavenhandel. Für die Entwicklung in Deutschland während des späten 18.  und frühen 19. Jahrhunderts wurde ein erster Analyseversuch mit Größendaten von Schülern (Hohe Carlsschule, Stuttgart) vorgenommen.

 

Eine für die USA entwickelte Kurve des Größenwachstums von Männern seit dem frühen 18. Jahrhundert zeigt folgenden Verlauf (vgl. SCHAUBILD 2 im Anhang): Der bemerkenswerteste Aspekt dieser Kurve ist ihre Übereinstimmung mit dem  vorher skizzierten Modellverlauf des Sterblichkeitsrückgangs, zu dem sie sich  spiegelbildlich verhält. Bis zum Beginn der 1830er Jahre stieg das Größenwachstum von Männern in den USA, dann sank es mehrere Jahrzehnte lang deutlich, um erst ab den 1890er Jahren wieder anzusteigen, diesmal verstärkt und bis zur Gegenwart durchgehalten. Nur nebenbei erwähnt sei, dass das Größenwachstum in diesem Zusammenhang meist nicht unmittelbar als Indikator des durchschnittlichen Gesundheitszustands interpretiert wird, sondern als Ausdruck des Ernährungszustands (Nutritional Status). Damit ist nicht das Ausmaß der Nahrungszufuhr gemeint; Veränderungen der Körpergröße indizieren vielmehr die Relation zwischen Nahrungsmenge und ihrer Nährstoffstruktur einerseits, den entsprechenden Anforderungen des Körpers andererseits. Ob die Nahrungszufuhr hinsichtlich Menge und Zusammensetzung angemessen ist, hängt von den körperlichen Belastungen (Arbeit usw.), vom Klima und von sonstigen Lebensumständen ab, besonders auch von der Exponiertheit gegenüber bestimmten Krankheitserregern.

 

Ähnliche Kurven wie für die USA sind auch von Roderick Floud u. a. für England entwickelt worden und stimmen weitgehend mit der Entwicklung des Größenwachstums in den USA überein. Somit darf der vorhin skizzierte Modellverlauf der Sterblichkeitsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert als gesichert gelten, dessen wichtigste, erklärungsbedürftige Merkmale die Zweiteilung des Rückgangs und der zwischenzeitliche Wiederanstieg der Sterblichkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum sind.

 

 

Ein Leitkonzept für Deskription und Interpretation:

der Epidemiologische Übergang

 

Das Konzept des Epidemiologischen Übergangs konkretisiert das bekanntere, übergreifende Konzept des Demographischen Übergangs. Bei letzterem handelt es sich um die modellhafte Fassung des natürlichen Bevölkerungswachstums, das während des langfristigen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses bestimmte Phasen durchläuft. Diese sind durch typische Beziehungen zwischen Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsniveaus geprägt. Zu Beginn des Demographischen Übergangs öffnet sich die „Bevölkerungsschere“, indem die Sterblichkeit zu sinken beginnt, während die Fruchtbarkeit, noch von traditionellen Normen gesteuert, in traditionelle Verhaltensweisen eingebettet, auf hohem Niveau verharrt. In der  zweiten Übergangsphase schließt sich die „Schere“ wieder, da nun die Fruchtbarkeit  auf die veränderten ökonomischen, sozialen und demographischen Bedingungen  reagiert: Der säkulare Geburtenrückgang setzt ein. Ist er abgeschlossen, haben sich Fruchtbarkeit und Sterblichkeit auf einem relativ niedrigen Niveau eingependelt. Die Zuwachsrate der Bevölkerung ist in der Folgezeit klein und abhängig von periodischen Fruchtbarkeitsschwankungen, die keinen Trend aufweisen. Vielmehr hängt das Ausmaß der bewusst betriebenen Geburtenkontrolle von verschiedensten wechselnden, oft zufälligen, wenn nicht sogar im Sinne von Moden auftretenden Anreizen und Impulsen ab.

 

Als Epidemiologischer Übergang wird nun die trendmäßige Entwicklung der Sterblichkeit in den verschiedenen Phasen des Demographischen Übergangs begriffen. Modelliert werden Wechselwirkungen zwischen dem durchschnittlichen Gesundheitszustand einer Bevölkerung und dem sozio-ökonomischen Wandel.

 

In diesem von Abdel Omran entwickelten Konzept werden drei Phasen unterschieden:  1. das vormoderne „Zeitalter der Seuchen und Hungersnöte“. Die durchschnittliche Sterblichkeit weist starke Fluktuationen um ein hohes Niveau auf, ohne dass sich eine langfristige Rückgangstendenz ausbilden könnte. Die Lebenserwartung bei Geburt liegt in der Regel unter 40 Jahren. 2. Das „Zeitalter der rückläufigen großen Epidemien“, während dessen sich allmählich ein sinkender Sterblichkeitstrend durchsetzt. Noch wesentlicher sind die Verringerungen der Sterblichkeitsschwankungen um diesen Trend herum. Die Lebenserwartung bei der Geburt steigt allmählich auf rd. 50 Jahre an. 3. Das „Zeitalter der degenerativen und gesellschaftlich verursachten Krankheiten“. Während dieser Phase pendelt sich die Sterblichkeit auf niedrigem Niveau ein und weist nur noch sehr geringe Schwankungen auf. Die Lebenserwartung steigt auf über 70 Jahre an.  Dies Konzept hat primär deskriptiven Charakter und stellt empirische Generalisierungen dar. Es gewinnt an analytischer Schärfe, wenn die zentrale Variable, die durchschnittliche (rohe) Sterblichkeitsziffer, nach Alter und Geschlecht sowie insbesondere nach Todesursachen differenziert wird. Das Konzept ist kürzlich in bestimmten Punkten konkretisiert worden, die den historisch und gesellschaftlich so wichtigen Übergang von der Phase eins zur Phase zwei betreffen, also die Bedingungen des Einsetzens des eigentlichen Übergangs. So haben besonders Michael Flinn und Stephen Kunitz darauf aufmerksam gemacht, dass bereits während des 18. Jahrhunderts, das nach den vorliegenden Datierungsversuchen für die westlichen Industrieländer typischerweise noch der Phase eins des Epidemiologischen Übergangs zugerechnet wird, bereits wichtige Veränderungen stattfanden. Bestimmte vormoderne Seuchen wie Pest und Lepra, deren Ausbreitung stark mit den traditionellen Formen der Kriegsführung verbunden war, traten, nicht zuletzt wegen der veränderten Militärorganisation und -strategie, kaum noch in diesen Ländern auf. Die um so gewichtiger werdenden epidemischen Infektionskrankheiten (Pocken, Masern, Scharlach, Keuchhusten usw.) verloren mit wachsender Verkehrs- und Kommunikationsdichte während des 18. und frühen 19.  Jahrhunderts ihren altersunspezifischen Charakter und wurden in wachsendem  Maße zu typischen Kinderkrankheiten, die primär Säuglinge und Kleinkinder  bedrohten. Überlebten diese eine frühzeitige Infektion, erwarben sie gegen diese Krankheiten in der Regel lebenslange Immunität. Daraus folgt, dass bereits gegen  Ende der Phase eins des Epidemiologischen Übergangs in vielen Regionen ein  allmählicher Rückgang der Erwachsenensterblichkeit einsetzen konnte, während die  Säuglings- und Kindersterblichkeit zunächst weiter ungünstigen, ja sich  möglicherweise sogar mit der beginnenden Urbanisierung verschlechternden  Bedingungen unterworfen blieben.

 

Empirische Befunde zum Epidemiologischen Übergang in Deutschland

 

Die Terminierung der Phasen

 

In Deutschland ist das Konzept des Epidemiologischen Übergangs bisher kaum aufgegriffen worden. Imhof und Spree haben sich um eine Datierung der Phasen bemüht – mit teilweise abweichendem Resultat. In seiner bekannten Studie zur deutschen Bevölkerungsentwicklung während der letzten 300 Jahre schreibt Imhof, die Phase eins des Epidemiologischen Übergangs habe in Deutschland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gedauert. Erst um die Jahrhundertwende habe nämlich die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt die Grenze von 50 Jahren erreicht. Für die Phase zwei, die zentrale Phase des Epidemiologischen Übergangs, bleibt somit kaum Zeit, denn schon während des frühen 20. Jahrhunderts setzt die Phase drei ein. Der von Imhof in den Vordergrund gestellte Schwellenwert von 50 Jahren für die Lebenserwartung bei der Geburt wird dem von Omran vorgelegten Konzept nicht gerecht. Offensichtlich markiert dieser Wert das Ende, nicht den Anfang der Phase zwei. Dass diese Phase etwa mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende  geht und dass nach dessen Ende das bis heute anhaltende „Zeitalter der degenerativen und gesellschaftlich verursachten Krankheiten“ beginnt, ist zwischen  Imhof und Spree unstrittig.

 

Aus den Erläuterungen zum Konzept des Epidemiologischen Übergangs lassen sich  allerdings drei Datierungskriterien für den Beginn der Phase zwei ableiten, denn  dieser Beginn soll ja charakterisiert sein durch das Verschwinden von Jahren  sogenannter offener Bevölkerungskrisen (mit Sterbeüberschüssen), durch das  Einsetzen des langfristigen Rückgangs der Sterblichkeit und vor allem durch eine  Verstetigung der Sterblichkeitsentwicklung. Daraus ergeben sich die folgenden operationalisierten Datierungskriterien:

 

– Zahl und Häufigkeit von Jahren mit Sterbeüberschüssen

– Trendrichtung der durchschnittlichen Sterblichkeitsziffer

– Variationskoeffizient der Sterblichkeitsziffer.

 

Wendet man diese Kriterien auf das (durchaus unvollständige und teilweise problematische) statistische Material zur Sterblichkeitsentwicklung in Deutschland  während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an, erhält man das folgende  Ergebnis:

 

– In vielen Teilen Deutschlands begann bereits im späten 18. Jahrhundert ein Rückgang der durchschnittlichen Sterblichkeit, der sich trendmäßig (also von kurzfristigen Schwankungen abgesehen) bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts fortsetzte.

 

– Die Schwankungsintensität der Sterblichkeit nahm in weiten Teilen Deutschlands bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ab; diese Tendenz verstärkte sich seit den 1820er Jahren noch.

 

– In den meisten größeren Regionen Deutschlands lagen die Maxima der Sterblichkeitsentwicklung während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den 1830er Jahren (den Jahren der ersten großen Cholera-Epidemien). Außerdem gab es in den darauffolgenden Jahren nur noch in sehr wenigen Regionen bzw. auf lokaler Ebene Sterbeüberschüsse (offene Bevölkerungskrisen). Imhof bemerkt dazu, dass seit den 1820er Jahren das Zeitalter der offenen Bevölkerungskrisen durch  dasjenige der verdeckten Bevölkerungskrisen (in denen die Geburtenüberschüsse  aufgrund stark angestiegener Sterblichkeit minimiert werden) abgelöst worden sei. Nimmt man diese Ergebnisse zusammen, darf behauptet werden, dass sich der  durchschnittliche Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung während des  späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tendenziell gebessert hat.  Spätestens seit den beiden Cholera-Einbrüchen während der 1830er Jahre (1831/32 und 1837) löste die Phase zwei des Epidemiologischen Übergangs im größten Teil Deutschlands das „Zeitalter der Seuchen und Hungersnöte“ endgültig ab. Allerdings profitierten von den Veränderungen des Sterblichkeitsgeschehens vor  allem Erwachsene; Jugendliche und ältere Kinder kaum; Kleinkinder und Säuglinge  in der Regel gar nicht. Diese Aussage ist im Folgenden durch einen kurzen Blick auf  die verfügbaren Daten zur altersspezifischen Sterblichkeit während des 19.  Jahrhunderts zu konkretisieren.

 

Entwicklungstendenzen der altersspezifischen Sterblichkeit während der Phase zwei des Epidemiologischen Übergangs

 

Die folgenden Aussagen sind anhand von statistischem Material aus Preußen gewonnen, das jedoch als für ganz Deutschland repräsentativ gelten darf, denn die Sterblichkeits-Differenzen zwischen den westlichen und den östlichen  Regierungsbezirken Preußens, die hinter den preußischen Durchschnitten  verborgen sind, entsprachen etwa den Sterblichkeitsunterschieden zwischen  Nordwest-Deutschland und Südost-Deutschland. Die grundlegenden Informationen sind in der TABELLE 1 (im Anhang) dargestellt.

 

Die klarste Entwicklung zeigt sich bei der Säuglingssterblichkeit, die nach dieser Berechnung während des ganzen 19. Jahrhunderts tendenziell zunahm. Über den Gesamtzeitraum hin stieg die Säuglingssterblichkeit um 28% an. Diese Aussage ist ein wenig durch die Wahl der Stichjahre in der Tabelle verzerrt. Dem SCHAUBILD 3 (im Anhang) sind die jährlichen Werte zugrunde gelegt. Die Trendlinien verdeutlichen, dass der langfristige Anstieg der Säuglingssterblichkeit in den frühen 1870er Jahren seinen Abschluss fand. Anschließend ergab sich durchschnittlich eine leichte Senkung der Säuglingssterblichkeit bis zur Jahrhundertwende; dann setzte ein starker Fall ein.

 

Bei den übrigen Altersklassen bilden die 1830er Jahre, für die hier das Cholera-Jahr  1837 steht, eine Art Wasserscheide: bis dahin stiegen die Sterblichkeitsziffern in der  Regel an, nahmen anschließend jedoch, wenn auch teilweise sehr langsam, ab. Am  deutlichsten ist der Rückgang gegenüber der hohen Sterblichkeit während der  1830er Jahre schon in den folgenden Jahrzehnten bei der Sterblichkeit der Über-60-Jährigen; erkennbar allerdings auch noch bei den 15 – 30-Jährigen. Relativ schwach dagegen bei den Kindern und Jugendlichen bis zu 15 Jahren, die die wichtigsten Rückgänge der Sterblichkeit erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erlebten.  Hervorzuheben ist, dass die Über-60-Jährigen bereits während der 1840er und 1850er Jahre annähernd das niedrige Sterblichkeitsniveau des Jahres 1825, als die Agrarpreise besonders tief standen und die Reallöhne entsprechend hoch, realisierten. Darauf stützt sich die Aussage, dass diese Altersklasse relativ früh von den Veränderungen profitierte, durch die die Phase zwei des Epidemiologischen Übergangs charakterisiert war.

 

Die relativ ungünstige Entwicklung der Überlebenschancen von Säuglingen während des 19. Jahrhunderts beruhte auf mehreren Faktoren. An dieser Stelle sei zunächst die rapide Verschlechterung der Überlebensbedingungen von unehelichen Säuglingen hervorgehoben. Im SCHAUBILD 4 (im Anhang) ist die Säuglingssterblichkeit in Preußen nach der Legitimität der Säuglinge differenziert. Man sieht, besonders gut nachvollziehbar anhand der linearen Trendlinien, dass zwar beide Komponenten der Säuglingssterblichkeit, die der ehelichen wie der unehelichen Säuglinge, langfristig anstiegen. Jedoch lag die Unehelichen-Sterblichkeit nicht nur während des betrachteten Zeitraums stets deutlich höher als die der ehelichen Säuglinge, sie stieg auch sehr viel stärker an. Während die eheliche Säuglingssterblichkeit von 1816/18 bis 1864/66 um 21% bei Knaben und um 23% bei Mädchen anstieg, erhöhte sich im selben Zeitraum die Sterblichkeit der unehelichen Säuglinge um 34% bei Knaben und um 37% bei Mädchen. Rd. 11% des Zuwachses der durchschnittlichen Säuglingssterblichkeit sind allein auf den

Zuwachs der Sterblichkeit unehelicher Säuglinge zurückzuführen. Dabei erhöhte sich die Unehelichen-Quote gleichzeitig um 1,4% Punkte bei Knaben (von 6,95 auf 8,34%) bzw. um 1,3% Punkte bei Mädchen (von 7,16 auf 8,47%).

 

Die hier skizzierten Entwicklungstendenzen der altersspezifischen Sterblichkeit,  wonach von den Veränderungen während der Phase zwei des Epidemiologischen  Übergangs zunächst besonders Erwachsene profitierten, später Jugendliche und  Kleinkinder, erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch die Säuglinge, soll im Folgenden durch die wichtigsten Veränderungen des Todesursachen-Panoramas  erklärt werden.

 

Veränderungen den Todesursachen-Panoramas während der Phase zwei des Epidemiologischen Übergangs Die Entwicklung bis 1874

 

Das Konzept des Epidemiologischen Übergangs rückt die langfristigen Veränderungen des Krankheits- und Todesursachen-Panoramas in den Mittelpunkt des Interesses. Das kommt bereits klar in der Bezeichnung der drei Phasen zum Ausdruck. Allerdings bleiben dort die Bezüge zu bestimmten Krankheiten bzw.  Todesursachen diffus, da auf sehr pauschal umschriebene Krankheitsgruppen (große Seuchen, epidemische Krankheiten, degenerative Krankheiten) abgestellt wird. Das Konzept geht von Begriffen aus, die nicht operationalisiert sind und sich deshalb einer direkten medizinalstatistischen Umsetzung entziehen. Vielmehr sind sie eher geeignet, bestimmte Assoziationen auszulösen, die den Historischen Demographen oder Medizinhistoriker veranlassen, die spärlichen und in vieler Hinsicht problematischen Angaben zu den im 18. und 19. Jahrhundert

vorherrschenden Krankheiten in der Weise unter die vom Konzept vorgegebenen Phasencharakteristika zu subsumieren, dass diese plausibel erscheinen. Es ist insofern nicht erstaunlich, dass die meisten wissenschaftlichen Referenzen in Bezug auf das Konzept des Epidemiologischen Übergangs methodologisch einen Status haben, den man als illustrative Umschreibung von Vorurteilen bezeichnen kann. Der Versuch einer medizinalstatistischen Überprüfung des Konzepts für ein bestimmtes Land in einer abgegrenzten Periode wirft dagegen schwerwiegende, teilweise gar nicht lösbare Probleme auf, je weiter man in der Geschichte zurückgeht. Obwohl statistische Unterlagen über Todesursachen in westlichen Industrieländern seit dem späten 18. Jahrhundert in relativ großer Zahl verfügbar sind, ist dies Material, das im Übrigen bisher nur selten aufbereitet und ausgewertet wurde, bis ins späte 19. Jahrhundert hinein meist kaum interpretierbar. Und auch im 20. Jahrhundert bleiben natürlich viele Unsicherheiten. Gelegentlich ist deshalb gefolgert worden, dass die Beschäftigung mit der Todesursachen-Statistik in der Regel sinnlos sei; die Ergebnisse müssten als so problematisch eingeschätzt werden, dass ihnen keinerlei wissenschaftlicher Wert zukomme. Derartige defätistische Schlüsse stützen sich vor allem auf Studien, in denen auf klinischem Weg zustande gekommene Diagnosen von Todesursachen (auf Totenscheinen in bestimmten

Krankenhäusern) durch Sektion in der Pathologie überprüft wurden. Die in derartigen Studien aufgedeckten Fehlerquoten sind tatsächlich beeindruckend.  Dennoch ist die Todesursachen-Statistik im Großen und Ganzen keineswegs wertlos.  Das hängt nicht zuletzt mit dem Gesetz der großen Zahl zusammen. Mikrostudien, die mit kleinen Fallzahlen operieren, aber auch Aussagen, die sich auf relativ seltene Todesursachen stützen, müssen das Argument der Unsicherheit gegen sich gelten lassen. Wenn man jedoch die Todesursachen zu größeren Gruppen (z.B. Akute  Infektionskrankheiten des Kinderalters, Tuberkulose, Herz-/Kreislauf-Krankheiten  etc.) aggregiert und auf genügend große Fallzahlen achtet, ergeben sich  Entwicklungstendenzen über die Zeit hin, die aus mehreren Gründen höchst  plausibel erscheinen: Sie entsprechen den Berichten von zeitgenössischen Ärzten  über vorherrschende Krankheiten in ihrem Patientengut; sie sind mit bestimmten  demographischen Entwicklungen und den für diese herangezogenen sozio- ökonomischen Erklärungen kompatibel. Nicht zuletzt aber werden viele Analyseergebnisse durch Übereinstimmungen (oder auch durch erklärbare Nichtübereinstimmungen) im interregionalen und internationalen Vergleich gestützt. Das ist vor allem wichtig in Bezug auf Auswertungen der Todesursachen- Statistik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Unsicherheiten und Fehler scheinen überregional und international ähnlich groß gewesen zu sein oder in dieselbe Richtung zu weisen. Entwicklungstendenzen sind ableitbar, die in Bezug auf das  konkrete Niveau der Sterblichkeit an bestimmten Todesursachen möglicherweise  unzuverlässig sind, wesentliche Niveauunterschiede zwischen verschiedenen  größeren Krankheitsgruppen jedoch ebenso zuverlässig spiegeln wie die Richtung  der langfristigen Veränderung.

 

Es bleibt ein weiteres Problem, das wohl letzten Endes nicht lösbar ist. Vom späten 18. Jahrhundert bis ins späte 19. Jahrhundert hinein änderten sich nicht nur häufig die Krankheitsbezeichnungen, die in der Todesursachen-Statistik auftreten.  Vielmehr stehen dahinter mehrfache grundlegende Veränderungen der medizinischen Krankheitstheorien. Oft ist mit dem modernen Krankheitsverständnis ein Nachvollzug dessen, was sich im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert hinter bestimmten Diagnosen verbarg, gar nicht mehr leistbar.  Während dieser langen Zeitspanne wechselten nicht nur die Bezeichnungen für bestimmte Krankheiten, sondern es veränderte sich eben auch das Bezeichnete. Wie Imhof ausführt, ist häufig eine Übersetzung der Termini aus der einen Theorie in die andere nicht möglich. Allerdings lassen sich seit dem frühen 19. Jahrhundert gelegentlich gewisse Gruppen von Krankheitsbezeichnungen bilden, die sehr global mit spezifischen Krankheitsbildern nach modernem Verständnis identifizierbar sind. Der folgende Versuch, Veränderungslinien im Todesursachen-Panorama während der Phase zwei des Epidemiologischen Übergangs auszumachen, beschränkt sich zunächst auf die Todesursachen-Statistik Preußens zwischen 1816 und 1874. Während dieser Periode blieb die offizielle Todesursachen-Nomenklatur konstant. Die zweite Teilperiode der Phase zwei (ab 1875) wird ebenfalls anhand preußischen statistischen Materials untersucht. Jedoch existierte von 1875 an eine stark modifizierte Todesursachen-Klassifikation. Wenn einige Ergebnisse nur für den Zeitraum 1816 bis 1866 gelten, dann wegen der 1866 eingetretenen starken Gebietsveränderungen und der kriegsbedingten Verzerrungen des Todesursachen- Spektrums.

 

Zunächst ist zu fragen, welche Todesursachen in der preußischen Statistik während dieses Zeitraums überhaupt unterschieden wurden. Das Statistische Bureau fasste die Fülle der tatsächlich gemeldeten Todesursachen zu 12 Gruppen zusammen:

–      Altersschwäche („das natürliche Lebensziel haben erreicht und sind an Entkräftung

gestorben“)

–      Gewaltsamer Tod: Selbstmord

–      Gewaltsamer Tod: allerlei Unglücksfälle

–      Im Kindbett gestorben

–      Pocken

–      Wasserscheu oder Hundswuth

–      Innere Krankheiten: Akute (schnell tötend)

–      Innere Krankheiten: Chronische (langwierig)

–      Blut-, Stick- und Schlagflüsse

–      Äußere Krankheiten

–      Nicht bestimmbare Krankheiten

–      Totgeborene

 

Von diesen Gruppen sind nicht interpretierbar: Altersschwäche, weil eine ganz unspezifische Restkategorie; Wasserscheu oder Hundswuth, da nicht nachvollziehbar; Nicht bestimmbare Krankheiten. Das ist jedoch nicht problematisch, da die Kategorie Wasserscheu/Hundswuth stets weniger als ein Promille der Todesfälle ausmachte und Altersschwäche sowie unbestimmbare Krankheiten zusammen stets maximal 20% der Todesfälle auf sich vereinigten. D.h., rund 80% aller Todesfälle entfielen auf die restlichen, in gewisser Weise durchaus interpretierbaren Todesursachen. (Vgl. dazu TABELLE 2 im Anhang). Von den verbleibenden Todesursachen-Gruppen haben bei weitem die größte Bedeutung die Akuten und die Chronischen Inneren Krankheiten. Sie machen zusammen stets zwei Drittel und mehr aller Todesfälle aus. Deutlich geringeren Anteil an den Todesursachen, aber immerhin noch sichtbare Größenordnungen von ungefähr 6 – 9% verursachten die Blut-, Stick- und Schlagflüsse. Zu vernachlässigende Größenordnungen entfielen auf die Pocken und auf die sogenannten äußeren Krankheiten (das sind gewisse Geschwüre, Schwämme, Brüche usw.; in der Regel weniger als 2% der Todesfälle).  Drei Gruppen von Todesursachen vereinigten demnach in der Zeit zwischen 1816 und 1874 regelmäßig mehr als 75% aller Todesfälle auf sich.

 

Welche Krankheiten verbergen sich in den beiden großen Gruppen der Inneren Krankheiten? Für die Zeit ab 1843 liegt eine Statistik aus Berlin vor, die die beiden Gruppen in jeweils mehr als 40 einzelne Krankheiten unterteilt. Daraus ist zu entnehmen, dass die meisten Todesfälle in der Gruppe der Akuten Inneren Krankheiten durchschnittlich vom Typhus, von Brechdurchfall und Durchfall der Kinder, von Gehirnentzündungen (inkl. der sogenannten Gehirnhöhlen-Wassersucht) und von Entzündungen des Brustfells bzw. der Lunge verursacht wurden. Die gewichtigste Chronische Innere Krankheit war die Lungenschwindsucht, mit weitem Abstand gefolgt von Abzehrung (Marasmus), Krämpfen, allgemeiner und Brust-Wassersucht sowie schließlich Magenerweichung.  Aufgrund der so ermittelten Gewichte kann die Entwicklungstendenz der Sterblichkeit an Akuten Inneren Krankheiten als Indikator für die Sterblichkeit an gastro-intestinalen Infekten sowie an Entzündungen der Atemwege/Lunge interpretiert werden. Im Fall der Chronischen Inneren Krankheiten erscheint es nicht unsinnig, diese als Indikator für die Entwicklung der Sterblichkeit an Lungen-Tuberkulose und an Herz-bzw. Kreislauf-Krankheiten aufzufassen.

 

Welche Veränderungen des Todesursachen-Spektrums spiegeln sich nun in der Statistik? Die wichtigsten Tendenzen sind: langfristiger Anstieg der Sterblichkeit an Akuten Inneren Krankheiten, langfristiger Rückgang der Sterblichkeit an Chronischen Inneren Krankheiten. (Vgl. SCHAUBILD 5 im Anhang). Diese Tendenz ist bei den Akuten Inneren Krankheiten besonders ausgeprägt, wenn man von den klar erkennbaren Epidemiejahren absieht, in denen vorübergehend stark überhöhte Sterblichkeitsniveaus erreicht wurden. Die Tendenz zur Abnahme der Sterblichkeit an Chronischen Inneren Krankheiten wiederum ist vor allem seit den frühen 1830er Jahren gut nachvollziehbar. Langfristig nahm auch die Sterblichkeit an den Blut-, Stick- und Schlagflüssen ab. Alle anderen Todesursachen wiesen dagegen keinen ausgesprochenen Trend auf.

 

Aus epidemiologischer Sicht kann man folgern, dass der nach dem Einbruch der Cholera zu Beginn der 1830er Jahre sich abzeichnende allmähliche leichte Rückgang  der Durchschnittssterblichkeit in Preußen im Wesentlichen getragen wurde von  einem Rückgang der Sterblichkeit an Chronischen Inneren Krankheiten, vornehmlich also der Sterblichkeit an Lungen-Tuberkulose und an Herz-/Kreislauf- Krankheiten. Er wurde dagegen bis zu einem gewissen Grad aufgehalten durch die  Zunahme der Sterblichkeit an Akuten Inneren Krankheiten, hier besonders durch  die Zunahme der Sterblichkeit an gastro-intestinalen Infekten, die primär Kinder  und Säuglinge dahinrafften. Das wiederum erklärt die oben erwähnte Tendenz einer frühzeitigen Abnahme der Erwachsenensterblichkeit im Gegensatz zu dem deutlichen Anstieg der Säuglingssterblichkeit während des Untersuchungszeitraums. Diese globalen Tendenzaussagen sollen im Folgenden  anhand der differenzierten Todesursachen-Statistik für die Stadt Berlin  versuchsweise konkretisiert werden.

 

Die Sterblichkeitsstatistik für Berlin ist hier deshalb interessant, weil sie insgesamt 41 unterschiedliche Todesursachen ausweist und bis 1780 zurückreicht. Der Nachteil ist, dass die Interpretierbarkeit einzelner Todesursachen-Angaben zweifelhaft ist. Außerdem liegen die Werte nur im Abstand von jeweils 10 Jahren vor.  Die folgenden Aussagen haben deshalb einen hypothetischen Charakter. Die wichtigsten Ausgangsinformationen vermittelt SCHAUBILD 6 (im Anhang). Man sieht, dass die Entwicklung der durchschnittlichen Sterblichkeit in Berlin zwei Phasen aufwies: von dem hohen Niveau um 1790 fiel sie bis 1820 um rd. ein Drittel. Bis 1830 stieg sie erneut auf ein relativ hohes Niveau, fiel dann aber bis 1860 um rd. 14%. Fasst man,  gemäß der bereits erwähnten Systematik der Preußischen Statistik, die Akuten und  Chronischen Inneren Krankheiten jeweils zusammen, zeigt sich, dass der Verlauf der  Durchschnittssterblichkeit gut durch die Entwicklung der Chronischen Inneren  Krankheiten gespiegelt wird. Ihr Anteil an allen Todesursachen betrug um 1780 etwas über 50% und sank bis 1860 auf rd. 44%. Damit blieben die Chronischen Inneren Krankheiten die beherrschende Gruppe von Todesursachen. Ihr Rückgang „erklärt“ zwei Drittel des gesamten Sterblichkeitsrückgangs zwischen 1780 und 1860.

 

Von 1790 – 1820 wurde das Absinken der Sterblichkeit zu etwa 10% auch von der etwas weniger gewichtigen Gruppe der Akuten Inneren Krankheiten mitgetragen, deren Sterblichkeitsziffer sich während dieses Zeitraums auf rd. die Hälfte reduzierte.  Allerdings fand dann nach 1820 der auch im Beispiel des preußischen Gesamtstaats beobachtete Anstieg der Sterblichkeit an diesen Krankheiten statt, der den trendmäßigen Rückgang der Chronischen Inneren Krankheiten teilweise kompensierte, und zwar mit einem negativen Beitrag von rd. 36%.

 

Von besonderem Interesse sind nun die einzelnen Todesursachen, die in den beiden größeren Gruppen zusammengefasst wurden. Die entsprechenden Informationen enthält TABELLE 3 (im Anhang). Blickt man zunächst auf die Chronischen Inneren Krankheiten, fallen vier Todesursachen auf, die zu Beginn des Untersuchungszeitraums wie auch an dessen Ende jeweils das größte Gewicht besaßen: die Lungen- und Halsschwindsucht, gefolgt von der Abzehrung, den Krämpfen und schließlich der Bauch- und allgemeinen Wassersucht. Auffällig ist, dass die Lungen- und Halsschwindsucht nicht das beschriebene Verlaufsmuster der Chronischen Inneren  Krankheiten bestimmte, sondern selbst einen U-förmigen Verlauf aufwies: Sie hatte  1780 etwa dasselbe Niveau wie 1860 und wies den niedrigsten Wert um 1810 auf.  Das Entwicklungsmuster der Chronischen Inneren Krankheiten scheint vielmehr von den drei anderen Komponenten bestimmt worden zu sein, vom Rückgang der Sterblichkeit an Abzehrung, an Krämpfen und an Bauchwassersucht. Diese drei Todesursachen bezeichnen allerdings sämtlich keine identifizierbaren Krankheiten, sondern Symptome. Deshalb ist nicht angebbar, welche Veränderungen des Krankheits-Panoramas sich hinter dem Rückgang der Gestorbenenanteile dieser drei Todesursachen verbergen. Möglicherweise handelte es sich auch primär um Veränderungen der Wahrnehmung von Krankheiten bzw. um einen Wandel der Diagnostik.

 

Bei den Akuten Inneren Krankheiten ist die Situation etwas unübersichtlicher, da mehrere Todesursachen annähernd gleich große Gestorbenenanteile auf sich vereinigten. Besonders auffällig ist der starke Rückgang der Pocken seit dem frühen 19. Jahrhundert. Während dieser Zeit rückläufig war auch der Gestorbenenanteil des  gastrisch-nervösen Fiebers. Ihren Anteil langfristig gesteigert haben die Entzündungen der Lunge und des Brustfells, ebenso die Todesursache Gehirnentzündung bzw. hitzige Gehirnhöhlen-Wassersucht und schließlich die Entzündungen des Halses und der Luftröhre. Gestiegen ist auch der Gestorbenenanteil von Durchfall und Ruhr. Man kann diese Todesursachen mit dem Typhus und den gastrisch-nervösen Fiebern zur Gruppe der gastro-intestinalen  Infekte zusammenfassen. Sie wäre demnach die gewichtigste Gruppe von Todesursachen innerhalb der Akuten Inneren Krankheiten, deren Anteil bis zum Ende des Untersuchungszeitraums nicht trendmäßig zurückgegangen ist.  Gemeinsam mit den Entzündungen, besonders der Atemwege, erklären sie den tendenziellen Anstieg der Sterblichkeit an Akuten Inneren Krankheiten.

 

Berücksichtigt man allerdings, dass der relativ hohe Sterblichkeitswert für 1850 ganz offensichtlich auf eine Cholera-Epidemie zurückzuführen ist, dann muss man wohl eher von einer langfristigen Stagnation der Sterblichkeit an Akuten Inneren  Krankheiten ausgehen. Die infektiösen Kinderkrankheiten sind jedenfalls, wie an den Todesursachen Masern und Keuchhusten abzulesen, in dieser Gruppe von Todesursachen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass keine Altersklassen unterschieden wurden, tendenziell unwichtiger geworden.

 

Die Befunde in Bezug auf Berlin entsprechen im Großen und Ganzen den für Preußen insgesamt abgeleiteten Ergebnissen. Die Analyse der differenzierteren Sterblichkeitsstatistik hat einige zusätzliche Informationen erbracht. Besonders hinsichtlich des für die Gesamtentwicklung so wichtigen Rückgangs der Sterblichkeit an Chronischen Inneren Krankheiten wird die Interpretation infrage gestellt, dafür primär einen Rückgang der Tuberkulose-Sterblichkeit verantwortlich zu machen. Andererseits wird die Vermutung gestützt, dass vor allem Erwachsene betreffende Krankheiten die Abnahme der Sterblichkeit an Chronischen Inneren Krankheiten bewirkten. Bezüglich der Akuten Inneren Krankheiten darf angenommen werden, dass der langfristige Rückgang der Sterblichkeit an infektiösen Kinderkrankheiten, besonders an Pocken, durch die Zunahme der Sterblichkeit an Entzündungen der Atemwege und vor allem an gastro-intestinalen Infekten mindestens kompensiert wurde. Das deckt sich mit einem von Imhof geäußerten Eindruck. Nimmt man die Cholera-Jahre hinzu, dann stieg die Sterblichkeit an Akuten Inneren Krankheiten sogar bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts tendenziell an, bedingt durch die langfristig zunehmende Virulenz von gastro-intestinalen Infekten verschiedenster Art.

 

Während der späten 1860er und frühen 1870er Jahre stieg die Sterblichkeit in Preußen, nicht zuletzt bedingt durch die Kriege und ihre Nachwirkungen, deutlich an. Die schon erwähnten Tendenzen der Veränderungen des Todesursachen-Panoramas setzten sich beschleunigt fort, wobei neben der Cholera auch Typhus und Ruhr sowie, allerdings letztmalig, die Pocken epidemisch auftraten. Das „Zeitalter der rückläufigen großen Epidemien“ war also bis in die 1870er Jahre hinein keineswegs frei von Epidemien. Die Jahre schwerer Epidemien wurden jedoch seltener, ihre Wirkung blieb häufiger regional, wenn nicht sogar lokal begrenzt. Vor allem schlugen die Epidemien nicht mehr auf die demographische Entwicklung durch. Zudem erscheinen die großen Epidemien seit den 1870er Jahren zunehmend als Quasi-Unfälle, die schon mit den damals verfügbaren

gesellschaftlichen-medizinischen Mitteln weitgehend hätten vermieden werden

können. Das gilt z.B. für die Pocken-Epidemie von 1871/72, die auf einer allzu liberalen Handhabung der Pocken-Impfungen, vor allem im preußischen Staat, beruhte. Und noch mehr gilt das für die kürzlich von Richard Evans so gründlich und faszinierend analysierte Cholera-Epidemie in Hamburg von 1892, deren Gewalt primär auf Unterlassungssünden und die Ignoranz der Stadtregierung zurückzuführen ist.

 

Die Entwicklung seit 1875

 

Da wir seit 1875 in der Preußischen Statistik eine differenziertere und nicht zuletzt  verbesserte Nomenklatur der Todesursachen besitzen, lassen sich die grundlegenden Wandlungen des Todesursachen-Panoramas während der zweiten  Phase des „Zeitalters der rückläufigen großen Epidemien“ gut herausarbeiten. Die jährlich ausgewiesenen 30 Todesursachen wurden, der Übersichtlichkeit wegen und um langfristige Vergleiche mit der seit 1892 vorliegenden Todesursachen-Statistik des Deutschen Reichs zu ermöglichen, zu 16 Gruppen zusammengefasst, die gelegentlich auf 14 reduziert werden mussten. In TABELLE 4 (im Anhang) sind die todesursachenspezifischen Sterblichkeitsziffern sowie die Veränderungsraten und  die Erklärungsanteile der einzelnen Todesursachen für drei Stichjahre, 1876, 1910  und 1972, zusammengestellt, wobei sich die Daten 1876 auf Preußen, 1910 auf das  Deutsche Reich und 1972 auf die Bundesrepublik Deutschland beziehen. Hier interessiert zunächst nur die Periode bis 1910. Während dieses Zeitraums fiel die Durchschnittssterblichkeit um über 33%. Dies Ergebnis wurde nicht zuletzt bewirkt durch die Abnahme der Sterblichkeit an Akuten Infektionskrankheiten, besonders des Kindesalters, (= Gruppen C und D), auf die ein Viertel des durchschnittlichen Sterblichkeitsrückgangs zurückzuführen ist. Rd. ein Sechstel trug die Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit bei. Am wichtigsten aber war der Rückgang der Verdauungskrankheiten (inkl. Typhus), auf dessen Konto rd. 41% der Abnahme der Durchschnittssterblichkeit ging.

 

Auffällig sind einige gegenläufige Tendenzen. So setzte sich die ungünstige Entwicklung bei den Infektionskrankheiten der Atemwege fort, die vermutlich schon während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts den allgemeinen Sterblichkeitsrückgang gebremst hatten. Retardierend wirkte auch die Todesursache Neubildungen, bes. Krebs. Dass die Gruppe Sonstige Benannte Todesursachen einen Sterblichkeitsanstieg bis 1910 förderte, beruhte vor allem auf der Zunahme der Krankheiten des Nervensystems, ist aber leider im Detail nicht nachvollziehbar. Die genannten Hemmfaktoren eines fortgesetzten

Sterblichkeitsrückgangs verweisen jedenfalls bereits auf die anschließende dritte  Phase des Epidemiologischen Übergangs, in der das Sterblichkeitsgeschehen  zunehmend von degenerativen und gesellschaftlich bedingten bzw. durch solche  Krankheiten bestimmt wird, die stark von der privaten Lebensführung der  Menschen beeinflusst werden.

 

 

Veränderungstendenzen des Todesursachenpanoramas seit dem Ersten Weltkrieg

 

Im 20. Jahrhundert ergeben sich natürlich völlig neue Möglichkeiten einer detaillierten Untersuchung der langfristigen Veränderungen des Todesursachen- Panoramas. Seit 1892 bemühte sich das Kaiserliche Gesundheitsamt um eine reichseinheitliche Todesursachen-Statistik, die zugleich internationalen Absprachen genügen sollte. Während des letzten Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg wurde diese Statistik immer vollständiger. Allerdings begnügte sie sich immer noch mit relativ groben gruppenmäßigen Zusammenfassungen der Todesursachen.  Angesichts der bereits erwähnten, noch in der Bundesrepublik häufig geäußerten Kritik an der inzwischen sehr differenzierten Todesursachen-Statistik aufgrund der Unsicherheit einzelner Diagnosen, kann diese Not einer relativ undifferenzierten Statistik aber auch aus den oben dargelegten Gründen als Tugend gelten. Da zudem eine Vergleichbarkeit mit den Daten für das späte 19. Jahrhundert gewährleistet werden sollte, wurde die am preußischen Material entwickelte Gruppeneinteilung der Todesursachen auch für das 20. Jahrhundert beibehalten. Die komprimierten Ergebnisse eines solchen Vergleichs fasst die TABELLE 4 (im Anhang) zusammen. Das Schlussjahr 1972 wurde gewählt, weil eine Fortschreibung der Gruppeneinteilung bis Ende des Jahrhunderts aufgrund der letzten Revisionen der ICD (des international gültigen Klassifikationsschemas für Todesursachen) nicht mehr möglich erscheint.

 

Über diesen langen Zeitraum (1910 bis 1972) reduzierte sich die durchschnittliche Sterblichkeit um mehr als die Hälfte. Die schon für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts

hervorgehobenen Tendenzen des Wandels des Todesursachen-Panoramas setzten sich überwiegend fort. Der Rückgang der Sterblichkeit an Akuten Infektionskrankheiten und an Tuberkulose „erklärt“ etwa 45% des durchschnittlichen Sterblichkeitsrückgangs.  Fast 38% trug der Rückgang der Sterblichkeit an Gastro-intestinalen Infekten (inkl.  Typhus) bei und fast 14% gehen auf Konto des Rückgangs der Sterblichkeit an Angeborener Lebensschwäche. Die beiden zuletzt genannten Gruppen von Todesursachen betrafen vornehmlich das Säuglingsalter. Ihr hoher Beitrag zum durchschnittlichen Sterblichkeitsrückgang ist Ausdruck des dramatischen Rückgangs der Säuglingssterblichkeit seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Als gegenläufige, den durchschnittlichen Sterblichkeitsrückgang tendenziell aufhaltende Todesursachen treten hervor die Herz- und Kreislaufkrankheiten sowie die Neubildungen (hauptsächlich Krebs). Die langfristige Zunahme der Sterblichkeit an diesen Todesursachen hat im Aggregat der Gesamtsterblichkeit immerhin ein Gewicht von fast 40%. Diese Entwicklungen setzten erst unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zögernd ein und beschleunigten sich seitdem, bes. seit 1950. Dennoch konnten sie während des 20. Jahrhunderts den fortgesetzten Fall der

durchschnittlichen Sterblichkeit nicht verhindern. Auf diese beiden Gruppen von  Todesursachen sowie auf die ebenfalls den Sterblichkeitsrückgang aufhaltende,  wenn auch nicht so gewichtige Todesursache Unfälle bezieht sich die Bezeichnung  der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sich durchsetzenden Phase des  Epidemiologischen Übergangs als „Zeitalter der gesellschaftlich bedingten  Krankheiten“. Ob allerdings die Dramatisierung, die die Zunahme der Sterblichkeit an Herz- und Kreislaufkrankheiten sowie an Neubildungen, besonders an Krebs, während der letzten Jahrzehnte erfahren hat, gerechtfertigt erscheint, soll im Folgenden anhand einiger differenzierter epidemiologischer Maße geprüft werden.  Ein solches Maß ist das durchschnittliche oder mittlere Sterbealter.

 

 

Zum Mittleren Sterbealter

 

Das Mittlere Sterbealter pro Todesursache ist eine selten berechnete, aber relativ anschauliche und komplexe Messziffer. Sie bringt zum Ausdruck, wie sich im  Durchschnitt der betrachteten Population das Alter der an bestimmten Krankheiten  gestorbenen Menschen verändert hat, und gestattet es somit, die Bedeutung  einzelner Krankheiten für das Sterblichkeitsgeschehen über den schlichten  Gestorbenenanteil hinaus zu erfassen. Da das Mittlere Sterbealter stets durch die Altersstruktur der Bevölkerung beeinflusst wird, ist es bei dieser Messziffer unumgänglich, eine Altersstandardisierung vorzunehmen. Die langfristigen Veränderungstendenzen diskutiere ich anhand von Berechnungen, bei denen ich für jedes Stichjahr mit der Altersstruktur der jeweiligen Sterbetafelpopulation standardisiert habe. Dadurch entspricht das Mittlere Sterbealter der Gesamtpopulation jeweils der Lebenserwartung eines Neugeborenen. Man erhält einen impliziten Maßstab für die Bedrohlichkeit der betreffenden Krankheiten:  Erreichen die Menschen, ehe sie an bestimmten Krankheiten sterben, durchschnittlich ein Alter, das über der Lebenserwartung bei der Geburt liegt,  scheint kaum ein Grund für eine besondere Furcht vor diesen Krankheiten zu bestehen. Anders, wenn sich herausstellt, dass eine Krankheit typischerweise Menschen frühzeitig, sozusagen in der Blüte ihrer Jahre, dahinrafft.

 

In SCHAUBILD 7 (im Anhang) ist zu erkennen, dass bereits 1901 Herz-/ Kreislaufkrankheiten (Gruppe I) und Krebs (Gruppe M) bei Männern durchschnittlich erst mit über 60 Jahren als Todesursache wirksam wurden. Das durchschnittliche Alter, mit dem man an Herz-/ Kreislaufkrankheiten oder an Neubildungen (Krebs) starb, lag demnach schon zu Beginn des Jahrhunderts recht hoch und erhöhte sich im Zeitablauf kontinuierlich. Dabei verringerte sich der Abstand zur Mittleren Lebenserwartung nur leicht; stets blieb das Mittlere Sterbealter deutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Zu einer Dramatisierung dieser Todesursachen als Killer besteht kein Anlass. Hier deuten sich im übrigen Erfolge des medizinischen Systems an, vor allem in der Nachkriegszeit, die es ermöglichten, das Mittlere Sterbealter an Herz-/ Kreislaufkrankheiten ständig weiter zu erhöhen.

 

Hinzuweisen ist auf einige Veränderungen des Mittleren Sterbealters bei Todesursachen, die in SCHAUBILD 8 (im Anhang) dargestellt sind. Hier deuten sich u. a.  Wandlungen des Charakters bestimmter Krankheiten an. Das gilt z. B. für die Krankheiten des Verdauungssystems (Gruppe L): Waren das bis 1901 eindeutig Magen-Darm-Infekte des Kindesalters, bes. von Säuglingen (vgl. dazu auch SCHAUBILD 9 im Anhang), muss man sich wohl seit 1925 ganz andere Krankheiten darunter  vorstellen, die erst in höherem Alter als Todesursache wirksam wurden.

 

Das Mittlere Sterbealter an ausgewählten Todesursachen ergab ein differenziertes Bild wichtiger Tendenzen des Epidemiologischen Übergangs seit dem späten 19.  Jahrhundert. Deutlich wurde u. a., dass bestimmte Todesursachen ihren Charakter grundsätzlich änderten, hier exemplifiziert anhand der Verdauungskrankheiten.  Andererseits ließ sich zeigen, dass die Todesursachen Herz-/Kreislauf-Krankheiten und Neubildungen (Krebs) doch wohl nicht die gesellschaftliche Bedrohlichkeit besitzen, die ihnen gern zugesprochen wird, jedenfalls dann nicht, wenn wir akzeptieren, dass wir nicht unsterblich sind (auch wenn uns das schwerfällt). Im Großen und Ganzen handelt es sich um die Todesursachen, die uns eben im hohen Alter treffen. Sie reißen uns nur in Ausnahmefällen unverhofft aus der „Mitte des Lebens“ hinweg. Dieser Befund wird im Folgenden weiter konkretisiert und in spezifischer Weise gewichtet, indem die auf das Konto bestimmter Todesursachen gehenden  sogenannten Verlorenen Lebensjahre berechnet werden.

 

 

 

Zu den Verlorenen Lebensjahren infolge vorzeitigen Todes an bestimmten Krankheiten

 

Die Verlorenen Lebensjahre scheinen begrifflich das Gegenstück zu den Gewonnenen Jahren zu sein, die Arthur Imhof seit Beginn der 1980er Jahre diskutiert.  Allerdings betrachtet Imhof schlicht die Zunahme der Lebenserwartung. Für die teilweise ja durchaus gegenläufigen Entwicklungen, die dennoch diese Zunahme bewirkten, bietet der Indikator Lebenserwartung keinerlei Anhaltspunkte. Dagegen stellen die Verlorenen Lebensjahre eine aussagefähige Maßzahl für das Resultat von Veränderungen des Sterblichkeitsgeschehens dar. Ausgehend von der altersspezifischen Sterblichkeit an bestimmten Krankheiten wird ermittelt, wie groß  die Differenz zwischen dem tatsächlich realisierten Sterbealter und der ferneren  Lebenserwartung in der betreffenden Altersklasse ist; und das pro Todesursache.  Die Verlorenen Jahre können primär als Maß für den entgangenen ökonomischen Nutzen potenziell zu lebender weiterer Jahre aufgefasst werden, die jedoch aufgrund des vorherrschenden Mortalitätsgeschehens entfallen. Deshalb ist das Maß in der epidemiologischen Effizienzkontrolle von spezifischen gesundheitspolitischen Maßnahmen sehr beliebt. Es impliziert, das ist nicht zu verkennen, eine ökonomische Verwertungsperspektive, der man sich jedoch nicht blind ergeben muss.

 

Die Zahl der Verlorenen Jahre sinkt demnach in dem Umfang, in dem bestimmte Krankheiten als Todesursachen seltener werden und/oder in dem weniger Menschen in jungen Jahren von Krankheiten hinweggerafft werden. Die Messziffer setzt eine strikte Altersstandardisierung voraus. Als Maßstab für diejenigen Jahre, die als „verloren“ bezeichnet werden können, dient in meinen Berechnungen die Mittlere Fernere Lebenserwartung der einzelnen Altersklassen lt. jeweiliger Sterbetafel (sogenanntes Lebenserwartungs-Konzept, LEK). Ob eine Reduzierung  der Verlorenen Lebensjahre (pro Todesursache) auf einer Verringerung der Letalität  der betreffenden Krankheit oder auf einer Verlagerung der Inzidenz in höhere  Altersklassen beruht, lässt sich durch Vergleich mit dem Mittleren Sterbealter bzw.  mit den altersspezifischen Sterblichkeitsziffern ermitteln.

 

In den TABELLEN 5-7 (im Anhang) habe ich die wichtigsten Ergebnisse der hier erstmalig für die lange Periode von 1910 bis 1972 in Deutschland durchgeführten Berechnungen von Verlorenen Lebensjahren dargestellt. Die absoluten Werte der Verlorenen

Lebensjahre sind, für sich genommen, irrelevant: sie stellen nicht interpretierbare Kunstprodukte dar. Einen Sinn ergeben sie stets nur im Vergleich, entweder zwischen verschiedenen Todesursachen oder über die Zeit hin. In Bezug auf  TABELLE 5 sei hervorgehoben, dass sich die Summe der Verlorenen Jahre von 1910  bis 1972 stark verringert hat – ein Befund der mit der Entwicklung der standardisierten Sterblichkeitsziffern übereinstimmt. Die Abnahme betrug bei den Männern 67%, bei den Frauen 75%.

 

Aufschlussreich sind die Zuwachsraten für verschiedene Teilperioden. Mehr als die Hälfte des Fortschritts wurde, das mag erstaunen, bereits in der Teilperiode bis 1938 erzielt; und auch bis 1925 verringerten sich die Verlorenen Lebensjahre schon jeweils um 27% (Männer) bzw. 30% (Frauen). D. h., in der kurzen Periode von 1910  bis 1925, die zudem durch den Ersten Weltkrieg, die Revolutions- und die  Inflationsjahre belastet war, fand mehr als ein Drittel des bis in die 1970er Jahre realisierten Rückgangs der Verlorenen Lebensjahre statt. Und in den 28 Jahren von 1910-1938 war der gesundheitliche Zugewinn in Form von zusätzlich zu durchlebenden Jahren bei Männern und Frauen jeweils größer als in den 22 Jahren Bundesrepublik von 1950 bis 1972. Das spricht für eine erstaunliche Irrelevanz der kurativen Medizin in Bezug auf die „Volksgesundheit“ während der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz des schon damals vom Gesundheitssystem beanspruchten rasch wachsenden Ressourcenverbrauchs. Das hat sich seit den 1970er Jahren geändert. Seitdem hat die Medizin besonders bei dem gewichtigen Killer Herz-/ Kreislaufkrankheiten große Fortschritte zu verzeichnen, die eine deutliche Erhöhung des Mittleren Sterbealters bewirkten und somit einen erheblichen Rückgang an Verlorenen Lebensjahren.

 

Hinweisen möchte ich auf die Zuwächse an Verlorenen Lebensjahren, die bis heute  bei Neubildungen/Krebs (Gruppe M) und nicht zuletzt bei Gewaltsamem Tod, d.h.  vor allem bei Unfällen (Gruppe O), stattfanden. Allerdings relativiert sich der Befund bei Krebs etwas aufgrund des gestiegenen Mittleren Sterbealters. Dagegen macht das relativ niedrige Sterbealter bei den Unfällen, das im Übrigen während der letzten Jahre durch zunehmende Konzentration auf Verkehrsunfälle weiter gesunken ist, auf ein dringendes gesundheits- bzw. gesellschaftspolitisches Problem aufmerksam.  Denn es sind ja vor allem junge Menschen, die sich da zu Tode fahren. Den Ursachen für diesen Befund kommt man näher, wenn man TABELLE 6 (im Anhang) inspiziert. Hier sind die Zuwachs- bzw. Abnahmeraten der einzelnen Todesursachen mit ihrem Anteil an den Verlorenen Lebensjahren 1910 (dazu TABELLE 7 im Anhang) gewichtet worden, um ihren jeweiligen Beitrag zur Gesamtrate bestimmen zu können. Es zeigt sich, dass bis 1925 der Rückgang der Verdauungskrankheiten (Gruppe L) den größten Beitrag zum Rückgang der Verlorenen Lebensjahre geleistet hat (ein Drittel). Darauf beruhte, wie erwähnt, die während dieser Zeit stattfindende dramatische Senkung der Säuglingssterblichkeit. Jeweils rd. 13% des Rückgangs verursachten Abnahmen der Sterblichkeit an Infektionen des Kinderalters (Gruppe C) und an Lungen-Tuberkulose (Gruppe E). Der relativ hohe Beitrag der Sonstigen benannten Todesursachen (Gruppe P) von rd. 23% dürfte dagegen primär auf Umstellungen und Verbesserungen von Diagnosen beruhen.

 

In der Nachkriegszeit kehrten sich die bis 1938 wirksamen Trends im Großen und Ganzen nicht um. Hinzuweisen ist auf die wenigen Ausnahmen. Das sind einerseits die Krankheiten der Neugeborenen (Gruppe A), die offenbar nach dem Krieg stärker unter Kontrolle gebracht werden konnten als zuvor. Darüber hinaus ergab sich eine  Trendwende bei den Akuten Infekten (Gruppen C und D), die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kausal therapiert werden können (Stichwort: Antibiotika), so dass sie (trotz relativ niedrigen Anteils dieser Todesursachengruppe an der Sterblichkeit bereits um 1910) bis 1972 doch ein Beitrag zur Verringerung der  Verlorenen Lebensjahre um rd. 13% leistete.

 

Abschließend sei noch einmal auf die Todesursachen eingegangen, die die Phase 3 des Epidemiologischen Übergangs kennzeichnen. Anhand der Berechnungen in TABELLE 6 (im Anhang) konnte der früher ermittelte Befund bestätigt werden, dass die Herz-/ Kreislaufkrankheiten in der Gegenwart keine wirkliche Bedrohung darstellen. Die Entwicklung der spezifischen Sterblichkeit trug sogar bis 1972, wenn auch minimal, zu einer Verringerung der Verlorenen Lebensjahre bei (-2%). Die Entwicklung bei

Neubildungen, bes. Krebs, erhöhte zwar die Verlorenen Lebensjahre bis 1972, aber ebenfalls nur sehr geringfügig (+3%). Und auch die Sterblichkeitszunahme infolge von Unfällen, vor allem von Verkehrsunfällen, konnte die langfristige Abnahme der Verlorenen Lebensjahre nicht aufhalten (+2%). Getragen wurde der Rückgang der Verlorenen Lebensjahre von den Sterblichkeitsrückgängen bei Akuten und Chronischen Infektionskrankheiten, dabei besonders hervorzuheben die Tuberkulose (Gruppe E), die Lungen- und Brustfell-Entzündungen (Gruppe G) und  die Verdauungskrankheiten (Gruppe L).

 

Ganz anders das Bild, wenn man fragt, welche Todesursachen denn nun 1972 auf dem stark verringerten Sterblichkeitsniveau und bei gegenüber 1910 um 2/3 reduzierter Summe Verlorener Lebensjahre diese Größe „regieren“. Dann zeigt uns TABELLE 7 (im Anhang), dass es klar 4 Gruppen von Todesursachen sind: die Angeborene Lebensschwäche (Gruppe A), die Herz-/Kreislauf-Krankheiten (Gruppe I), die Neubildungen (Gruppe M) und die Unfälle (Gruppe O). Allerdings hat die Untersuchung gezeigt, dass diese 4 Todesursachengruppen ganz unterschiedlich hinsichtlich des gesellschaftlich-medizinischen Interventionsbedarfs beurteilt werden können. Dieser Interventionsbedarf erscheint in Bezug auf die große Masse der Herz-/Kreislauf-Todesfälle und die Neubildungen gering, da es sich im Wesentlichen um Zugewinne in sehr hohen Altersklassen handeln würde. Hier geht es, überspitzt formuliert, primär um eine Auseinandersetzung mit dem nachvollziehbaren, aber nicht selbstverständlichen Wunsch nach Unsterblichkeit.  Auch in Bezug auf die Angeborene Lebensschwäche kann man kaum von einem dringenden gesellschaftlichen Interventionsbedarf sprechen, denn die Säuglingssterblichkeit ist bereits minimal (mehr als 99% aller lebendgeborenen Kinder überleben das 1. Lebensjahr). Am dringlichsten erweist sich, so gesehen, der Bedarf, die Unfallrisiken zu senken. Doch das ist, erkennbar, kein medizinisch zu lösendes Problem.

 

 

Erklärungen des säkularen Sterblichkeitsrückgangs

 

Die internationale Diskussion

 

Die wahrscheinlichen Ursachen des säkularen Sterblichkeitsrückgangs werden seit langem kontrovers diskutiert. In Deutschland gibt es zwar immer noch Anhänger des sogenannten „Medizinischen Modells“, wonach der säkulare Sterblichkeitsrückgang ausschließlich oder doch primär auf Fortschritte der Medizin in Theorie und Therapie zurückgeführt wird.

 

In England und den USA ist die Diskussion dagegen seit den 1960er Jahren durch die Auseinandersetzung mit den Thesen des Sozialmediziners McKeown geprägt. Er schloss die Lücke zwischen Medizin und den Sozialwissenschaften und indem er mehrere denkbare, sich ergänzende Determinanten des Sterblichkeitsrückgangs systematisch diskutierte und gewichtete. Diese sind:

 

  1. Fortschritte in der medizinischen Versorgung und Therapie

 

  1. Verringerung der Virulenz bestimmter Krankheitserreger

 

  1. Erwerb von Immunität durch die Menschen aufgrund von natürlicher Selektion oder von genetischen Veränderungen oder durch Immunisierungsmaßnahmen

 

  1. Verbesserungen der öffentlichen und privaten Hygiene, besonders durch Ausbau der gesundheitsrelevanten Infrastruktur

 

  1. Ernährungsverbesserungen.

 

Umstritten ist immer noch, in welchem Umfang einzelne dieser Faktoren oder in bestimmter Kombination, zu welcher Zeit, direkt oder indirekt den Sterblichkeitsrückgang bestimmten. McKeown wendet eine Methode an, die er selbst als das Sherlock-Holmes-Prinzip bezeichnet: Wenn wir das Unmögliche eliminiert haben, muss das, was verbleibt, so unwahrscheinlich es erscheinen mag, die Wahrheit sein. Im Mittelpunkt der Diskussion steht bei ihm als wichtigster Block empirischer Informationen eine Statistik der Sterblichkeit in England und Wales, differenziert nach Todesursachen, für die Stichjahre 1838/54, 1901 und 1971. Nach gründlicher Prüfung der genannten Faktoren, denen er jeweils ganze Kapitel in seinen Büchern widmete, kommt er zu folgendem Resultat:

 

ad 1. Medizinische Versorgung bzw. Therapie hatten vor Entwicklung/ Einführung der Antibiotika seit den späten 1930er Jahren, schwerpunktmäßig ja erst nach 1945, kaum unmittelbaren (kausal zurechenbaren) Einfluss auf den Sterblichkeitsrückgang.

 

ad 2. Zufällige Veränderungen der Erreger von Infektionskrankheiten stellen eine willkürliche und wissenschaftlich unbefriedigende Erklärung des großen Wandels des Sterblichkeitsgeschehens dar, die zudem empirisch ungesichert ist. Viele dieser Krankheiten sind im Übrigen in den weniger entwickelten Ländern nach wie vor präsent. Warum sollten die Erreger nur in den entwickelten Industrienationen ihren Charakter geändert haben? Allerdings mag es Ausnahmen geben, so z. B. das Scharlachfieber, das aus unerklärlichen Gründen im Laufe des 19. Jahrhunderts an Virulenz verloren hat.

 

ad 3. Die gezielte Immunisierung durch Impfung war nur im Fall der Pocken seit dem frühen 19. Jahrhundert auf breiterer Basis erfolgreich. Dadurch wurden die regelmäßigen Pocken-Epidemien in vielen Teilen Europas seltener und verloren an Gewicht. McKeown schließt jedoch aus, dass das Nachlassen der Pockeninzidenz und -letalität den Trend der Sterblichkeitsentwicklung bestimmt haben könne. Dazu war ihr Gewicht innerhalb des Todesursachen-Spektrums zu gering und wurde – wie Imhof gezeigt hat – praktisch sofort durch andere Krankheiten, besonders durch die Magen-Darm-Infekte, ersetzt.

 

ad 4. Hygienemaßnahmen (bes. im Sinne der Städte-Assanierung) wurden erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wirksam, verursachten jedoch rd. 1/5 der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten Sterblichkeitssenkung.

 

ad 5. Den am frühesten einsetzenden und während des ganzen 18. und 19.  Jahrhunderts anhaltenden Einfluss auf den Sterblichkeitsrückgang übten nach McKeown Verbesserungen des Ernährungszustands aus. Für das wichtigste Indiz hält er in diesem Zusammenhang den Rückgang der Tuberkulose-Sterblichkeit. Erste einschlägige Statistiken liegen ihm zwar erst seit 1838 vor. Von da an war jedoch die rückläufige Tuberkulose-Inzidenz für einen großen Teil des Rückgangs der Durchschnittssterblichkeit verantwortlich. Und zwar ergibt sich für die Periode 1838-1901, dass der Rückgang der Tuberkulose-Sterblichkeit (-56%) 33% des  Rückgangs der Durchschnitts-Sterblichkeit

(-22%) bewirkt hat.

 

McKeown argumentiert nun wie folgt: Für ihn ist ausgemacht, dass die Sterblichkeit während des 18. Jahrhunderts sank (auch das übrigens nur eine Vermutung, die sich auf eine Analogie zu den verfügbaren schwedischen Daten stützt). Tuberkulose war vermutlich auch im 17. und 18. Jahrhundert ein major killer. Seit Beginn der Todesursachen-Registrierung in England und Wales, also seit 1838, sinkt die Tuberkulose-Sterblichkeit. Deshalb, so folgert er, liegt die Vermutung auf der Hand, dass die Tuberkulose-Sterblichkeit auch in den Jahrzehnten zuvor rückläufig war. Als plausibelste Ursache für den globalen Sterblichkeitsrückgang im 18. Jahrhundert und für den von der Tuberkulose angeführten weiteren Rückgang während des 19. Jahrhunderts kommt nach McKeown nur ein verbesserter Ernährungszustand aufgrund gewachsener Agrarproduktivität und Leistungsfähigkeit des Transportsektors in Betracht. Im späten 19. Jahrhundert wurde der Einfluss der Ernährungs-Komponente weiter verstärkt durch die Entwicklung der Lebensmittelhygiene, besonders durch die Pasteurisierung. Sie bewirkte u. a., dass die Säuglingssterblichkeit, die zwischen 20% und 30% der Gesamtsterblichkeit ausmachte, seit der Wende zum 20. Jahrhundert drastisch zurückging, nicht zuletzt aufgrund von Verbesserungen der künstlichen Säuglingsernährung. Dazu trug allerdings auch der im späten 19. Jahrhundert einsetzende säkulare Geburtenrückgang bei.

 

Soweit ein Blick auf die Thesen McKeowns, die bis heute sehr einflussreich sind. Ihre  Überzeugungskraft gewinnen sie vor allem durch die deutliche Einschränkung der  Bedeutung des oben genannten „Medizinischen Modells“, das den Blick für die großen sozialhistorischen und demographischen Veränderungen und deren  Auswirkungen auf die Sterblichkeit jahrzehntelang verstellt hatte. Allerdings ist auch durchaus Kritik gegenüber McKeown vorgebracht worden, vor allem gegen die starke Betonung der Ernährungs-Komponente. Auch wurde seine Methode infrage gestellt.

 

Die derzeit wohl gründlichste Kritik des Ansatzes, der Methoden und der Ergebnisse von McKeown hat Szreter vorgelegt. Auf sie sei deshalb im Folgenden exemplarisch eingegangen. Szreter charakterisiert sein eigenes Vorgehen wie folgt: Zunächst wird das Timing des Sterblichkeitsrückgangs überprüft. Dabei spielt eine wichtige Rolle die durch die Forschungsergebnisse von Wrigley und Schofield zur englischen Bevölkerungsentwicklung zwischen 1541 und 1871 neu eröffnete Möglichkeit, bestimmte Sterblichkeitstrends bis in das 17. Jahrhundert zurück zu verfolgen, während sich McKeown mit schlecht gestützten Annahmen begnügen musste.  Außerdem wird betont, dass städtische und ländliche Verhältnisse während des 19.  Jahrhunderts deutlich divergierten und dass die Sterblichkeitsentwicklung während  der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den städtischen Verhältnissen bzw. von  den Veränderungen der Raumstrukturen zugunsten wachsender  Bevölkerungsanteile der Städte dominiert wurde.

 

Vor diesem Hintergrund kann nun gezeigt werden, dass den öffentlichen Hygienemaßnahmen die Schlüsselrolle bei der Bekämpfung derjenigen Krankheiten  zukam, die während des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts die rasch wachsenden  Städte heimsuchten und dort zunächst die Sterblichkeit in die Höhe trieben.  Politische Aktivitäten und die aus ihnen resultierenden präventiven Hygienemaßnahmen (besonders Ausbau der gesundheitsrelevanten Infrastruktur) leiteten die Sterblichkeitssenkung seit ca. 1870 ein und trugen sie bis zur Jahrhundertwende.

 

Damit wird der „unsichtbaren Hand“ eines globalen steigenden Lebensstandards bzw. verbesserter Ernährung eine Absage erteilt. Diese Faktoren waren zwar nicht unwichtig, jedoch unterstützten sie nur die durch die präventive Hygiene eingeleiteten Entwicklungen.

 

Die Detailkritik an McKeown betrifft vor allem seine übermäßige und einseitige Betonung des Rückgangs der Tuberkulose-Sterblichkeit. Der Hauptkritikpunkt ist in diesem Zusammenhang, für die von McKeown behauptete Rückläufigkeit der Tuberkulose-Sterblichkeit im 18. und frühen 19. Jahrhundert fehle schlicht die statistische Evidenz.

Darüber hinaus nimmt Szreter an, dass zwischen Bronchitis/Influenza und Tuberkulose Abgrenzungsprobleme bestanden; ein Teil des späteren Tuberkulose– Rückgangs sei auf veränderte Diagnosen zurückzuführen. Der seit den späten 1860er Jahren sichtbare Tuberkulose-Rückgang und der gleichzeitige Anstieg der Sterblichkeit an Bronchitis bzw. Influenza müssten gegeneinander aufgerechnet werden. Dann reduziert sich der Beitrag, der sogenannten air-borne diseases (der durch Tröpfchen-Infektion übertragenen Krankheiten) zum Sterblichkeitsrückgang auf etwa 20%. Das ist aber nur wenig mehr als der gemeinsame Beitrag des Rückgangs von bestimmten water-borne diseases wie Typhus, Ruhr und Cholera. Da der Rückgang der water-borne diseases früher einsetzte als der Tuberkulose-Rückgang sollte letzterer nicht als originärer und primärer Faktor, sondern als sekundärer, abgeleiteter Effekt der sanitären Reformen betrachtet werden.

 

Die Sanitärreformen gewinnen in dieser Argumentation eine so große Bedeutung, weil sie nicht nur die water-borne diseases reduzierten, sondern auch vielen air-borne diseases, besonders der Tuberkulose, sozusagen den Boden entzogen. Szreter geht es darum, die Wichtigkeit von Gesundheitspolitik, vor allem von öffentlicher Hygienepolitik, zu betonen. Ob es sich nun um Infrastrukturausbau oder um Hygieneaufklärung handelte: in jedem Fall waren Aktivitäten notwendig, um Reaktionen auf der Seite der Sterblichkeit auszulösen.

 

Weniger überzeugend sind die Implikationen dieser Kritik für die Erklärung des Sterblichkeitsrückgangs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hier stützt sich Szreter auf Wrigley und Schofield, die den Fruchtbarkeitsanstieg für das Bevölkerungswachstum verantwortlich machen und die Ernährungshypothese von McKeown ablehnen. Dieser Kritik ist jedoch durch die oben erwähnten Forschungsergebnisse der Height-Health-Forschung (Robert Fogel, Roderick Floud,  John Komlos u. a.) weitgehend der Boden entzogen worden.

 

Ein Beispiel für die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes und zugleich für die Art und Weise, wie der zentrale Indikator Nutritional Status gehandhabt wird, ist die von Fogel geleistete Auflösung des sogenannten Peerage Paradoxons. Das Peerage Paradoxon besteht darin, dass die Lebenserwartung von Kindern des englischen Adels bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bei der Geburt nicht höher war als die der  Durchschnittsbevölkerung, obwohl doch die Ernährungsbedingungen im Adel  prinzipiell sehr viel besser gewesen sind als in der Durchschnittsbevölkerung. Dies Phänomen wird häufig als Argument gegen die These McKeowns angeführt, vor allem Ernährungsverbesserungen hätten den säkularen Sterblichkeitsrückgang bewirkt. Fogel verdeutlicht, dass das Paradoxon nur dann nicht lösbar erscheint, wenn man mit Ernährung ausschließlich Nahrungsmengen meint. Man müsse jedoch auf die konkreten Formen der Ernährung und die Zusammensetzung der Nahrung, speziell im Säuglings- und Kleinkindalter, eingehen – und da unterschieden sich Adel und einfaches Volk nicht wesentlich: Beider Säuglinge wurden vor allem mit Papp (Mehlbrei) oder Wassergrütze aufgezogen. Außerdem wurden die Säuglinge des Adels stark schon im vorgeburtlichen Stadium durch exzessiven

Alkoholgenuss der Mütter geschädigt. Toxische Substanzen, wie Alkohol, Opium und übergroße Mengen Salz, wurden den Säuglingen des Adels besonders häufig verabreicht. Hinzu kamen im Kleinkindalter Formen der Fehlernährung, von denen adlige Kinder stärker als die der Unterschichten betroffen waren, nämlich die durch geschmackliche Vorurteile gesteuerte Vermeidung von Gemüse und Milchprodukten.  Die Nahrung im Adel erscheint typischerweise überlegen hinsichtlich des Kalorien- und Proteingehalts, war jedoch durch einen Mangel an den Vitaminen A, C und D gekennzeichnet.

 

Soweit eine Illustration für die Handhabung des Konzepts des Nutritional Status. Ein Hauptergebnis der Height-Health-Forschung ist nun aber, dass sich während des 18. und frühen 19. Jahrhunderts der Nutritional Status großer Populationen in den USA, in England und in Österreich deutlich verbessert hat – abzulesen an der starken Zunahme der durchschnittlichen Körpergröße erwachsener Männer. Damit ist für das Ernährungsargument von McKeown die bisher fehlende Evidenz gewonnen worden: Verbesserungen des Ernährungszustands im Bevölkerungsdurchschnitt dürften der wichtigste Faktor für den Sterblichkeitsrückgang im 18. Jahrhundert und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gewesen sein.

 

Im Übrigen belegen meine eigenen Forschungen, dass für große Teile Deutschlands ebenfalls seit den 1780er Jahren langfristig sinkende Trends der Sterblichkeit anzunehmen sind. Vieles spricht dafür, diese Entwicklungen primär auf Ernährungsverbesserungen zurückzuführen. Weitere Einflüsse (z. B. eine starke Reduzierung der Insekten als potenzielle Krankheitsüberträger infolge von

Drainagemaßnahmen usw.) werden in der Literatur diskutiert. Deren Bedeutung für den Sterblichkeitsrückgang wurde jedoch bisher empirisch nicht stringent untermauert. Sie müssen deshalb als hypothetisch gelten. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass die These einer langfristig verbesserten Ernährung durch diese Argumente eher gestützt, aber nicht ersetzt wird.

 

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Height-Health-Studien, das erst aufgrund der konsistenten Messungen vom frühen 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart so deutlich zutage treten konnte, ist der vorübergehende Rückgang der durchschnittlichen Körpergrößen und der Wiederanstieg der Sterblichkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das löste eine neue Runde in der bereits seit Jahrzehnten anhaltenden Kontroverse über die Entwicklung des Lebensstandards im Gefolge der Industriellen Revolution aus. Am ausgeprägtesten ist in dieser Beziehung die Diskussion der englischen Verhältnisse, weil bisher akzeptierte Resultate infrage gestellt werden. Die etablierte Hypothese lautete: Während der zweiten Phase der Industriellen Revolution, ca. ab 1820, stiegen in England die Reallöhne der Arbeiter. Nun zeigen die Ergebnisse der Height-Health-Forschungen, dass zur selben  Zeit etwa 2 Generationen lang jedoch die Körpergrößen durchschnittlich  zurückgingen und die Sterblichkeit anstieg. Wie soll das möglich sein?  In den Blickpunkt werden durch dies scheinbare Paradox die speziellen Gesundheitsschädigungen in den industriellen Agglomerationen gerückt. Jeffrey Williamson, der sich in dieser Diskussion besonders engagiert hat, drückte den  bisher zu wenig berücksichtigten Sachverhalt im Titel eines seiner Aufsätze mit dem  Bild von den „Urban Disamenities and Dark Satanic Mills“ aus. Inzwischen setzt sich  die Interpretation durch, dass die tatsächlich während der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts in England durchschnittlich gestiegenen Reallöhne nicht den Stress der neuartigen und oft desaströsen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den industriellen Agglomerationen  kompensieren konnten; die Gesundheitsschädigungen schlugen vielmehr voll auf die  Sterblichkeit wie auch auf die Körpergröße (vom Säuglingsalter an) durch. Das wirft nun allerdings die Frage umso dringlicher auf, wodurch und seit wann diese Gesundheitsschädigungen wieder abgebaut bzw. hinsichtlich ihrer Effekte auf Körpergröße und Sterblichkeit kompensiert wurden?

 

Ganz klar ist, dass die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Größenwachstums bzw. für den erneuten säkularen Sterblichkeitsrückgang andere gewesen sind als im späten 18.  Jahrhundert. In der Diskussion um die Urban Disamenities wird für England vor allem dem Faktor Sanitation Movement und in dessen Gefolge dem Ausbau der gesundheitsrelevanten Infrastruktur sowie der Verbreitung von Maximen einer verbesserten öffentlichen und Individualhygiene eine Schlüsselrolle zugemessen. Auch McKeown hat diesem Faktorenbündel ja, wie oben zitiert, für das späte 19. Jahrhundert eine größere Bedeutung beigemessen, indem er es pauschal für ca. 1/5 des Sterblichkeitsrückgangs verantwortlich machte.

 

Soweit der skizzenhafte Überblick über die internationale Diskussion von Ursachen  des säkularen Sterblichkeitsrückgangs im 18. und 19. Jahrhundert. Nicht unproblematisch erscheint mir nun allerdings, wie der Indikator Körpergröße bzw.  Nutritional Status als Erklärungsfaktor für den Sterblichkeitsrückgang im 20.  Jahrhundert eingesetzt wird. Fogel bietet auf der Basis von Daten für 7 europäische Staaten zwischen 1880 und 1971, die Floud erarbeitet hat, folgendes Erklärungsmodell an:

 

ln ST = 30.788 – 5.385 ln H – 0.036 ln Y – 0.007 T, t =     (5.292)  (-4.534)     (-0.382)     (-4.040) dabei sind ST = rohe Sterblichkeitsziffer

 

H  = Größe erwachsener Männer  Y  = reales Pro-Kopf-Einkommen  T  = Zeit-Term (1880 = 1)

 

In diesem Regressions-Modell wird der Rückgang der Sterblichkeit erklärt durch zwei signifikante Faktoren: erstens durch die Zunahme der Körpergröße, die für Nutritional Status steht, zweitens durch die Zeit. Mir erscheint dieser Ansatz allerdings zu grob, gemessen an der Informationsfülle, die uns allein schon im Bereich der Sozial-, Medizinal-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsstatistik seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Verfügung steht. Während man für das 18. und frühe  19. Jahrhundert den Nutritional Status, differenziert erläutert, für eine interessante und fruchtbare Erklärende halten kann, bietet er, ohne mit anderen inhaltlich spezifizierten Variablen kombiniert und durch diese dann wahrscheinlich relativiert  zu werden, eine Catch-All- oder besser: eine Schlage-tot-Erklärung. Darüber hinaus dürfte der Ansatz erheblich durch die Interdependenz der Erklärenden verzerrt sein, besonders durch die Multikollinearität zwischen Körpergröße und Pro-Kopf- Einkommen. Ich halte den Ansatz schlicht für inadäquat.

 

Fruchtbarer erscheint es mir, zunächst das Explanans, die Sterblichkeit, stärker zu differenzieren. Dabei ist vor allem an die Aufgliederung nach Geschlecht, Altersklassen und Todesursachen zu denken. Man kann dann rasch erkennen, dass die großen Unterschiede, die sich ergeben, und zwar sowohl hinsichtlich des Niveaus der Sterblichkeit wie hinsichtlich ihrer Veränderungen während des 20.  Jahrhunderts, meist ganz unterschiedlich ansetzende Erklärungen nahelegen.

 

Elemente einer Erklärung des Sterblichkeitsrückgangs in Deutschland seit den 1870er Jahren

 

Im Folgenden wird keine generelle und umfassende Erklärung des Sterblichkeitsrückgangs seit dem späten 19. Jahrhundert angestrebt. Vielmehr rückte der epidemiologische Ansatz die zu unterschiedlichen Zeitpunkten jeweils besonders bedeutsamen Gruppen von Todesursachen und deren altersspezifische Inzidenz in den Mittelpunkt. Auf diese Weise wurden wichtige Aspekte des globalen Prozesses sichtbar, die jeweils spezifische Erklärungen erfordern und zugleich auch ermöglichen.

 

Oben war deutlich geworden, dass von 1910 bis 1972 der Rückgang der Verdauungskrankheiten (Gruppe L) den größten Beitrag zum Rückgang der Verlorenen Lebensjahre geleistet hat. Am stärksten war dieser Beitrag in der Phase bis 1925 (ein Drittel). Darauf beruhte wiederum die während dieser Zeit stattfindende dramatische Senkung der Säuglingssterblichkeit.

 

Hinsichtlich der Ursachen dieser Entwicklung lässt sich nun behaupten: Das Verschwinden der Säuglinge und Kleinkinder aus der Gruppe der an Verdauungskrankheiten Gestorbenen ist ein Beleg für die Erfolge bei der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Die wichtigsten Maßnahmen waren: 1. Hygienische Aufklärung der Mütter bezüglich Zubereitung und Aufbewahrung von Säuglingsnahrung; 2.  Stillpropaganda und Gewährung von Stillprämien; 3. Milchküchen sowie Milchzuteilungen in den Großstädten; 4. Verbesserter Mutterschutz; 5. Angebot von preiswerter und angemessener künstlicher Säuglingsnahrung. Dies Maßnahmenbündel bewirkte, dass sich innerhalb von rd. zwei Jahrzehnten die Säuglingssterblichkeit mehr als halbierte, weil der Hauptkiller, die Verdauungskrankheiten, ausgeschaltet werden konnten. Das relative Gewicht der

einzelnen Faktoren und die konkrete Art ihres Zusammenspiels sind bisher ungenügend geklärt. Spezifische Fallstudien fehlen.

 

Allerdings ist nicht zu vergessen, dass zur Gruppe der Verdauungskrankheiten bis 1910 auch solche des Erwachsenenalters zu rechnen sind (Typhus, Ruhr, Cholera usw.). Ihr Einfluss auf die Sterblichkeit konnte ebenfalls drastisch gemindert werden, muss aber anderen Ursachen zugerechnet werden als denen, die für den Rückgang der Säuglingssterblichkeit geltend gemacht wurden. Hier ist primär an die in den 1870er Jahren zunächst in den Großstädten beginnende, später immer größere Breitenwirkung gewinnende Assanierungsbewegung zu denken. Darunter werden alle Maßnahmen der öffentlichen Hygiene gefasst, besonders zentrale Versorgung mit gereinigtem Trinkwasser und Kanalisierung, aber auch Straßenreinigung,  Müllbeseitigung, Anlage von kontrollierten Schlachthöfen usw.

 

Für die deutschen Verhältnisse hat u. a. John Brown den Versuch unternommen, den Beitrag der Städte-Assanierung zur Senkung der städtischen Sterblichkeit während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu messen. Und zwar prüft er deren Auswirkung auf die rohe Sterblichkeitsziffer, auf die Säuglingssterblichkeit sowie auf die Sterblichkeit an Typhus und an Magen-Darm-Infekten. Als Erklärende fungieren: Anteil der an die Kanalisation angeschlossenen Häuser, Anteil der an die filtrierte zentrale Wasserversorgung angeschlossenen Häuser, Anteil der auf unfiltriertes Grundwasser zurückgreifenden Häuser, Arztdichte und Krankenhausbetten-Dichte. Die Daten beziehen sich einerseits auf 29 mittlere und große preußische Städte, andererseits, in einem zweiten Berechnungsschritt, auf alle deutschen Städte mit 15.000 u. mehr Einwohnern.

 

Die Regressionsergebnisse sprechen dafür, dass den sanitären Verbesserungen ein statistisch signifikanter Einfluss auf den Rückgang aller genannten Sterblichkeitsziffern beigemessen werden muss. Am stärksten war der Einfluss auf den Rückgang der Typhus-Sterblichkeit (53%) und auf die Säuglingssterblichkeit (51%). Geringer der messbare Einfluss auf den Rückgang der Sterblichkeit an Magen-Darm-Infekten (43%); noch geringer der Einfluss auf die Durchschnitts-Sterblichkeit (34 %). Der Reallohnanstieg hatte regelmäßig keine merkliche Bedeutung für die Veränderungen der zu erklärenden Variablen.

 

Nach Brown hätte demnach in Deutschland die Städte-Assanierung einen größeren Beitrag zum Sterblichkeitsrückgang geleistet (rd. ein Drittel) als in England und Wales (nach McKewon nur 20%). Dieser Effekt kann u.a. schon dadurch zustande kommen, dass McKeown, obwohl selbst Arzt, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Einflüssen auf die Sterblichkeit nicht genügend in Rechnung stellt.  Dazu gehört seine Eingrenzung der Wirksamkeit von Infrastrukturmaßnahmen ausschließlich auf die Magen-Darm-Infekte und andere sogenannte water-borne oder food-borne diseases. Er sieht nur die durch Assanierungsmaßnahmen erreichte Verringerung der Exponiertheit gegenüber den entsprechenden Krankheitserregern. Die Möglichkeit, dass verbesserte Wasserversorgung, Abwässerbeseitigung sowie damit einhergehende Intensivierung der öffentlichen und privaten Hygiene auch die sogenannten air-borne diseases, also die durch Tröpfchen- und Kontaktinfektion hervorgerufenen Krankheiten (bes. Tuberkulose, aber auch die meisten infektiösen  Kinderkrankheiten, wie Masern, Scharlach, Keuchhusten usw.), beeinflusst haben könnten, berücksichtigt McKeown nicht. In Bezug auf die air-borne diseases wird als  Reduktionsfaktor einzig auf die Ernährungsverbesserungen verwiesen. Das ist jedoch, wie Robert Fogel betont, kurzsichtig, insofern als die Reduktion der water- und food-borne diseases, in erster Linie Magen-Darm-Infekte, die Fähigkeit der  Menschen steigerte, durch adäquate Nahrungsaufnahme und Nahrungsverarbeitung  ihren Nutritional Status zu verbessern und damit ihre Resistenz gegenüber air- borne diseases. Diese Effekte lassen Browns höhere Bewertung des Einflusses der  Assanierungsmaßnahmen auf den Sterblichkeitsrückgang plausibel erscheinen. Auf andere, bisher vernachlässigte Faktoren, die zum Sterblichkeitsrückgang  beigetragen haben dürften, verweist das oben erwähnte Resultat meiner  Berechnungen, wonach rd. 13% des Rückgangs der Verlorenen Lebensjahre bis 1972 verursacht wurden durch die Abnahme der Sterblichkeit an Infektionen des  Kindesalters (Gruppe C) und an der Lungen-Tuberkulose (Gruppe E). Welche Ursachen sind hier anzunehmen?

 

Zu berücksichtigen sind wieder mehrere zusammenwirkende Faktoren: 1. Verringerung der Exponiertheit gegenüber Krankheitserregern infolge zunehmender öffentlicher und Individualhygiene sowie verringerter Wohndichte; 2. Steigerung der Resistenz gegenüber Krankheiten aufgrund von verbessertem Nutritional Status; in Bezug auf die Tuberkulose zusätzlich: 3. Verringerung der  Belastungen am Arbeitsplatz durch organisatorische und technische Fortschritte sowie durch Arbeitszeitreduzierung; 4. (seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs)  erfolgreiche medizinische Intervention.

 

Der relativ hohe Beitrag von rd. 23%, den die Sonstigen Benannten Todesursachen  (Gruppe P) zum Rückgang der Verlorenen Lebensjahre leisteten, dürfte dagegen, wie  erwähnt, primär auf Umstellungen und Verbesserungen von Diagnosen beruhen.  Hinzuweisen ist noch auf Todesursachen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg nennenswert zum Sterblichkeitsrückgang beitrugen. Ihre Entwicklung macht deutlich, dass seitdem völlig veränderte, weil stark verbesserte Interventionschancen der Medizin bestehen. Hier sind z. B. zu erwähnen die Krankheiten der Neugeborenen (Gruppe A), die offenbar nach dem Krieg stärker  unter Kontrolle gebracht werden konnten und seitdem ebenfalls zum weiteren  Rückgang der Verlorenen Lebensjahre beitrugen. Das dürfte ein Beleg für die enormen Anstrengungen auf dem Gebiet der Perinatalmedizin seit den 1960er Jahren sein. Darüber hinaus ergab sich eine Trendwende bei den Akuten Infektionskrankheiten, die seit Kriegsende kausal therapiert werden können. Das trug, wie erwähnt, trotz des relativ niedrigen Anteils, den die Akuten Infektionskrankheiten an der Sterblichkeit bereits um 1910 nur noch besaßen, doch bis 1972 mit rd. 13% zur Verringerung der Verlorenen Lebensjahre bei.

 

Soweit die verschiedenen Elemente einer Erklärung des Sterblichkeitsrückgangs, die  sich aus einer differenzierten epidemiologischen Betrachtung ergeben. Warum sich  der Tod in den westlichen Industrieländern während der letzten 120 Jahre so stark  aus dem Leben der Menschen zurückgezogen hat – von Kriegen und Katastrophen  abgesehen -, warum er sich im Prinzip erst während des achten Lebensjahrzehnts  unausweichlich vor den Menschen aufrichtet und mit welchen Krankheiten er dann droht, konnte verdeutlicht werden. Es bleibt die Frage, ob die Zeitgenossen denn nun während der somit gegenüber unseren Vorfahren gewonnenen zusätzlichen Lebensjahre gesünder geworden sind.

 

 

Ausblick: Wurden die Deutschen während der letzten 120 Jahre gesünder?

 

Was für eine dumme Frage, möchte man denken. Natürlich sind wir durchschnittlich gesünder geworden! Man schaue sich doch nur um: Wann in unserer Geschichte hat es jemals so viele kräftige, gut gebaute, schöne, ständig vielerlei Freizeitaktivitäten und Genüssen frönende Menschen gegeben? Wann jemals versuchten so viele Menschen, freiwillig die Grenzen ihrer so offenkundig gestiegenen Leistungsfähigkeit zu erproben, im Marathonlaufen, im Bergsteigen, im Tieftauchen, im Dauertanzen usw. Man kann auch auf die großen Scharen von Senioren verweisen, die studieren, aktiv Sport treiben und um den ganzen Erdball reisen. Diese Impressionen wirken überzeugend. Aber sind sie die ganze Wahrheit? Verbergen sie nicht Vieldeutiges?  Suchen wir also nach zuverlässigen Informationen, ohne die Widersprüche zu eliminieren. Möglicherweise kann die Antwort auf die Leitfrage nicht so eindeutig ausfallen, wie mancher das gernhätte.

 

Zunächst die positive Seite. Erinnert sei als erstes an die bereits eingangs erwähnte, stark erhöhte Lebenserwartung bei der Geburt. Diese Zunahme der Lebenserwartung ist die Grundlage der ständigen Zunahme des Anteils älterer Menschen in unserer Gesellschaft. Da zugleich durch den Geburtenrückgang die jüngeren Jahrgänge stark dezimiert sind und auch nicht in entsprechendem Umfang wieder nachwachsen werden, hat sich der Altersaufbau der Bevölkerung seit dem späten 19. Jahrhundert dramatisch verändert. Die Pyramide, deren breite Basis im 19. Jahrhundert die vielen Kinder und Jugendlichen bildeten, hat sich zur Urne gewandelt, die auf einer immer schmaler werdenden Basis steht. Die wichtigste Konsequenz ist der oben differenziert analysierte Wandel des Todesursachen- Panoramas, der während des 20. Jahrhunderts bis heute geprägt ist durch Zunahme des Anteils der chronisch-degenerativen Krankheiten als Todesursachen. Vorläufiges Fazit: Wir werden eben immer älter, bleiben vielleicht auch lange gesund; aber mit höherem Alter muss irgendwann der Tribut gezahlt werden, denn wir nutzen uns ab und sind nach wie vor nicht unsterblich.

 

Diese These soll kurz mit den vorliegenden Befunden zum Morbiditäts-Spektrum konfrontiert werden. Jetzt geht es also nicht um Todesfälle, sondern um die in der

Bevölkerung insgesamt vorhandenen Krankheiten, bevor sie tödlich werden. Hier sei  Heinrich Schipperges zitiert, der in seiner „Geschichte des kranken Menschen“ Folgendes schreibt: „Im ‚Großraum Medizin‘ erleben wir besonders dramatisch den seit einigen Jahrzehnten vor sich gehenden Panoramawandel der Krankheiten, der  uns – nach der Beherrschung der akuten Infektionskrankheiten – mit einem Heer an Kranken und Leidenden konfrontieren wird (…). Wir werden es (…) am Ausgang der achtziger Jahre nahezu ausschließlich mit Chronisch-Kranken zu tun haben: mit  Langzeit-Patienten, die 30, 40 Jahre am gleichen Leiden laborieren, mit Mehrfach-Geschädigten, die mehrere Gebrechen zugleich zu verkraften haben, (…) mit  Vielfach-Leidenden, deren längeres Altern potenziertes Leiden weiterschleppt.“ (S.  292) Schipperges führt Daten als Beleg an. So wurde etwa in einer Tübinger Klinik bei 11.000 Patienten ermittelt, „dass 16% der Klinikpatienten über 60 Jahre 5 Krankheitsdiagnosen erkennen ließen, in der Altersstufe über 70 Jahre sogar 29%.  Jeder dritte ältere Mensch könnte demnach fünf Krankheiten gleichzeitig mit sich herumschleppen, von den nicht diagnostizierten Wehwehchen gar nicht zu reden.“ (S. 303) Die Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang von Multimorbidität.

 

Damit sind wir also zu den negativen Aspekten der herrschenden Gesundheitsverhältnisse gelangt. Das ungünstige Bild kann vor allem durch Hinweis auf so häufige und kostenintensive chronische Dauerleiden wie Rheuma, Arthrose, Bluthochdruck, Bronchitis, Diabetes, verschiedenste Allergien und psychische Störungen abgesichert werden. Sie nehmen in der Bevölkerung ständig zu, auch in jüngeren Altersgruppen, etwa von der Lebensmitte an, und die Medizin kann keine dauerhaft wirksame Abhilfe schaffen. Die Kosten sind gewaltig: So beziffert die “Gesundheitsberichterstattung des Bundes“ im H. 49 (2010), S. 22, z. B. für 2006 allein die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten der Rheumatischen Erkrankungen in der BRD mit rd. 4 Mrd., das ohne den Produktionsausfall zu berücksichtigen, der wahrscheinlich eine Verdoppelung der Kosten bedeutet. Ich muss mein erstes Fazit demnach korrigieren: Mit unserer Gesundheit ist es offenbar nicht nur bergauf gegangen, und es sind nicht nur die sozusagen natürlichen Leiden des gewachsenen Anteils älterer Menschen, die die Erfolgsbilanz beeinträchtigen.

 

Man kann noch einige Negativ-Indikatoren ergänzen, z. B. auf den erstaunlichen Anstieg der Arzt- und Apothekendichte während der letzten 120 Jahre verweisen.  Ähnlich die Entwicklung im Krankenhausbereich, wo ebenfalls bis heute eine Vervielfachung der Bettendichte gegenüber dem späten 19. Jahrhundert, ja noch gegenüber der Situation der 1930er Jahre realisiert wurde.  Und natürlich kostet das alles! Kein Wunder, wenn die Ausgaben für Gesundheit im weitesten Sinne allein innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte beunruhigend gewachsen sind, wie manche behaupten: explosionsartig. Diese Ausgaben stiegen beispielsweise von 159 Mrd. € im Jahre 1992 auf 356 € im Jahre 2016 an und haben sich somit allein während der letzten zwei Jahrzehnte mehr als verdoppelt, übrigens auch pro Kopf der Bevölkerung. Der Anteil am Bruttosozialprodukt wuchs inzwischen auf 11,3% an. D. h., wir geben mehr als 11% unserer gesamten Wirtschaftsleistung für Gesundheitszwecke aus, Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel, präventive Sportprogramme samt Zubehör etc. nicht mitgerechnet. Deutlicher kann der enorm gewachsene Stellenwert dieses Aspekts für unser modernes Leben nicht dokumentiert werden!

 

Die sogenannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat allerdings viele Gründe  und spiegelt nicht direkt eine Verschlechterung des durchschnittlichen  Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Sie macht vor allem klar, dass wir –  überzeugt von dem fraglosen Wert des sozialen Guts „Gesundheit“ – nichts  unterlassen wollen, um durch Geldleistungen sowie durch Konsum von Medikamenten und gesundheitlichen Dienstleistungen alles für unsere Gesundheit  getan zu haben, was möglich und sinnvoll erscheint.

 

Lassen Sie mich zunächst die widersprüchlichen Indikatoren bilanzieren.  Harte Facts auf der positiven Seite sind:

 

– die Verlängerung der Lebenserwartung

– die stark gesunkenen Sterblichkeitsziffern, vor allem in den jüngeren Altersklassen

– die Dominanz von Alterskrankheiten im Todesursachen-Spektrum

– der relativ geringe Anteil von einzelnen Todesursachen, die Menschen vor dem

  1. Lebensjahr dahinraffen

– die sinkende Tendenz bei einigen von diesen „Killern“.

 

Negativ fallen ins Gewicht:

 

– die ständige Zunahme der Arzt-, Apotheken- und Krankenbettendichte

– die dramatisch steigenden Gesundheitskosten

– die steigende Tendenz der Frühinvalidität

– die wahrscheinliche Zunahme von Krankheiten, die schon in jüngeren Jahren auftreten,

sich überlagern und den Menschen jahrzehntelang plagen können (Allergien, Bronchitis,

Bluthochdruck, Rheuma)

– die ständige Zunahme psychischer Störungen.

 

Allerdings ist nicht zu übersehen, dass fast alle negativen Indikatoren Ausdruck eines spezifischen modernen Krankheitsverständnisses sind und direkt von diesem abhängen.

  1. B. sind die Frühinvaliden und erst recht die Frührentner keineswegs sämtlich Krüppel. Ich möchte mich diesem Problem von der Seite des subjektiven Krankheitsempfindens her nähern. Darüber gibt es erwartungsgemäß sehr wenig konkrete Informationen. Dennoch lassen sich diesbezüglich begründete Aussagen treffen.

 

  1. B. hat der Sozial- und Medizinhistoriker Edward Shorter Umfragen zur Häufigkeit des Arztbesuchs in den USA während der 1920er Jahre mit solchen aus den 1980er Jahren verglichen. Dabei stellte er fest, dass der „Durchschnittsamerikaner“ während der 1920er Jahre maximal einmal pro Jahr zum Arzt ging, heute tut er das dagegen zwei- bis dreimal jährlich. Für Deutschland ermittelte man bei Frauen und Männern zusammen in der Altersklasse von 18 bis 79 Jahren im Zeitraum von 2008 bis 2011 durchschnittlich 9,2 Arztbesuche pro Jahr. Zugenommen hat nach Shorter auch der Anteil der Amerikaner, die ihren Gesundheitszustand als eher schlecht einschätzen.

 

Entsprechende Umfragen in der BRD bestätigen die amerikanischen Befunde.  Zwar schätzt die überwiegende Zahl der Deutschen (72%-75%) Gesundheit als gut bis sehr gut ein, doch nimmt dieser Anteil schon ab dem mittleren Lebensalter stark ab und liegt bei den über 60Jährigen deutlich unter 50%. Insgesamt hat der Anteil derjenigen, die sich große Sorgen um die eigene Gesundheit machen, während des 21. Jahrhunderts stetig leicht zugenommen und liegt inzwischen bei etwa 22%. Mehr als ein Drittel der Deutschen nimmt eine Verschlechterung der eigenen Gesundheit wahr. Offensichtlich ist die Sorge um den eigenen körperlichen Zustand und die Aufmerksamkeit für irgendwelche Krankheitssymptome stark gewachsen. Kehrt sich das durch hohe Lebenserwartung, niedrige Sterblichkeit und blühende Gesundheit in den ersten Lebensjahrzehnten charakterisierte Bild, das ich zunächst entworfen habe, nun doch gänzlich um?

 

Fragen wir nach den Ursachen für die genannten problematischen Entwicklungen.  In der Literatur werden drei Gründe genannt:

 

  1. die gewachsene Isolierung des einzelnen Menschen, vor allem durch den Zerfall der Familien (Lockerung der Generationenkette, Zunahme der Scheidungshäufigkeit und Abnahme der Heiratsquote) und die damit einhergehende Verunsicherung (Zunahme der Identitätsprobleme etc.);

 

  1. die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Körperprobleme und die Verbreitung von Krankheitsfurcht durch die Massenmedien;

 

  1. die Verallgemeinerung der Krebsangst, bes. im Sinne des Zusammenhangs von Rauchen und Lungenkrebs.

 

Ich bin der Meinung, dass hiermit wichtige Elemente unseres modernen Gesellschaftslebens bezeichnet werden, die durchaus dazu beitragen können, die starke Zunahme des subjektiven Krankheitsgefühl verständlich zu machen. Aber sie sind selbst erklärungsbedürftig. Man muss fragen, welche Determinanten hinter der Zunahme der Scheidungshäufigkeit oder der Gier nach Informationen über Krankheiten und andere Körperprobleme in den Massenmedien wirksam sind. Um die Bedeutung der genannten Faktoren zu relativieren, sei zunächst auf die erstaunliche Tatsache verwiesen, dass das Krankheitsempfinden offenbar bei beiden Geschlechtern ungleich ist; und natürlich verändert sich die Häufigkeit der Arztbesuche mit höherem Alter. Das zeigen die Arztbesuchsziffern von Frauen und Männern im Jahr 2007, die gesetzlich versichert waren und überhaupt im Jahr mindestens einmal zum Arzt gingen: In der Altersklasse von 20- 30 Jahren, also im jüngeren Erwachsenenalter, konsultierten Männer durchschnittlich mindestens fünfmal pro Jahr einen Arzt, Frauen in dieser Altersklasse jedoch dreimal so oft. Bei den 60-65Jährigen hatten Männer durchschnittlich bereits 20 bis 22 Arztbesuche pro Jahr, Frauen 25 bis 30. Erst bei den Über70-Jährigen war die Häufigkeit der Arztkontakte pro Jahr mit mehr als 30 bei beiden Geschlechtern etwa gleich.

 

Den obengenannten Erklärungsfaktoren sind beide Geschlechter in gleicher Weise ausgesetzt. Insofern verweisen die Geschlechtsdifferenzen des Krankheitsempfindens und Gesundheitsverhaltens auf andere, bisher vernachlässigte Einflüsse: Einerseits begreifen Männer nach wie vor ihre Gesundheit häufiger im Sinne des späten 19. Jahrhunderts, nämlich als selbstverständlich solange vorhanden, wie man „eben noch kriechen kann“. Andererseits sind Frauen nicht nur in dieser Hinsicht anders, geben nicht nur eher Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit zu und suchen dann ärztliche Hilfe. Sie sind auch bei bestem Wohlbefinden häufiger als Männer gezwungen, zum Arzt zu gehen, z.B. um sich die „Pille“ verschreiben zu lassen oder um sich der Krebsvorsorge zu unterziehen.  Demnach sind in unser Gesundheits- und Versicherungssystem Mechanismen eingebaut, die die Zahl der Arztbesuche, hier vor allem bei Frauen, schon in jungen Jahren in die Höhe treiben.

 

Dasselbe gilt in Bezug auf die Praxis der Krankschreibung: Man darf sich aufgrund versicherungsrechtlicher Zwänge in der Regel erst dann, auch bei leichten Gesundheitsbeeinträchtigungen, kurzfristig von der Arbeit befreien, wenn man sich vom Arzt hat krankschreiben lassen. Man muss erst einmal zum Arzt gehen, um Bagatellerkrankungen, die schon immer die Menschen gelegentlich plagten, wie Erkältungen, vernünftig, nämlich mit Zimmer- oder Bettruhe ausheilen zu können.  Das bedeutet jedoch keineswegs, dass wir immer kränker geworden sind. Dazu kommt die nach wie vor höchst ungleiche Beteiligung beider Geschlechter an der Kinderbetreuung: In der bei weitem überwiegenden Zahl der Fälle, in denen Kinder erkranken, sind es die Frauen, die deren Betreuung übernehmen und sich insofern ggf. vom Arzt krankschreiben lassen müssen.

 

Ein weiterer Faktor ist das veränderte eigentliche Gesundheitsverständnis in unserer modernen Gesellschaft. Z. B. definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Gesundheit umfasse nicht nur Arbeitsfähigkeit und Schmerzfreiheit, sondern darüber hinaus subjektives Wohlbefinden (seelische Balance) und die Fähigkeit zu erfolgreicher sozialer Integration. Etwas vereinfacht kann man sagen:  Gesund ist nach diesem Verständnis eigentlich nur derjenige, der sich glücklich fühlt und bei dem der Arzt auch keine Krankheitszeichen finden kann. Verschärft wird das Problem durch die von Arthur Imhof herausgestellte Tatsache, dass mit dem  Verlust der religiös bestimmten Jenseits-Perspektive, mit dem Verlust des Lebens nach dem Tode, für die meisten Menschen in den westlichen Industrieländern nur  noch das Diesseits bleibt. Das eine irdische Leben wird dadurch ungeheuer aufgewertet. Es mit allen Fasern zu genießen und um jeden Preis zu verlängern, dabei den Körper als Vehikel intensiv zu beobachten und vor Krankheiten zu schützen, ist die sozusagen logische Konsequenz. Diese Entwicklung trägt dazu bei, ein Gesundheitsverständnis zu etablieren, das uns die Hinnahme von Schmerzen und leichten körperlichen Beeinträchtigungen verbietet und unsere Sensibilität gegenüber allen möglicherweise schädlichen Umweltelementen stark gesteigert hat.

 

Nur das gilt demnach als gesundes und erstrebenswertes Leben, das voll ist von sinnlich erfahrenen Sensationen und frei von Schmerz und psychischem Leid, frei  auch von bohrenden Sinnfragen und dem belastenden Gefühl der inneren Leere.  Hinter den genannten Bedingungen für das vermehrte Krankheitsgefühl sind zwei Basisprozesse wirksam: die weit fortgeschrittene Individualisierung und die im Zusammenhang damit deutlich erschwerte Identitätsfindung. Diese Prozesse stiften auch den Zusammenhang zwischen den an sich relativ disparaten nachgelagerten Erklärungsfaktoren.

 

Es kann als sicher gelten, dass die Zahl der Menschen, die sich in dem bezeichneten  Sinne nicht gesund fühlen, vor allem nämlich, weil sich dies andauernde Glücksgefühl, die seelische Balance, gekoppelt mit körperlichem Wohlbefinden, nicht  einstellen will, nach dem Zweiten Weltkrieg enorm gewachsen ist. Das Gefühl, zum Streben nach dieser Art Glück geradezu verpflichtet zu sein, ist m. E. zur allgemeinsten Krankheitsursache geworden. Verschärft wird die Problematik durch die erwähnte Individualisierung. Jeder muss seinen ganz individuellen Weg zum Glück finden. Es gibt keine verbindlichen moralischen Normen, nicht einmal Sitten und Gebräuche, die uns den sicheren Weg zu einem glücklichen Leben weisen würden. Auf dem freien Markt gibt es zwar viele unverbindliche Angebote, Ratschläge, Schulen, Sekten usw. Hier auszuwählen, für sich selbst das Richtige zu finden – das überfordert jedoch immer mehr Menschen. Nicht zuletzt deshalb sind so viele von uns ständig von der Depression bedroht, von dem nagenden Zweifel, ob man denn tatsächlich alles aus sich gemacht habe, was drinsteckt, ob man denn tatsächlich alles Glück erfahren habe, dessen man fähig sei. Die häufigste Frage, die sich die Zeitgenossen stellen, ist wohl die: War das schon alles? Soll’s das bereits gewesen sein: dieser Beruf, diese Freundschaft, diese Ehe, diese Kinder? Weil die Zweifel schmerzen, verschreiben die Ärzte solche Mengen an Psychopharmaka und schmerzlindernden Mitteln. Deshalb auch steigen ständig der Alkohol- und der Drogenkonsum.

 

Nach diesen Ausführungen lautet meine Antwort auf die hier gestellte Leitfrage:  Objektiv leben nicht nur immer mehr Menschen immer länger. Im Sinne des späten 19. Jahrhunderts sind sie auch immer längere Phasen ihres Lebens so gesund und kräftig, wie keine frühere Generation. Aber subjektiv fühlen sich immer größere Teile unserer Mitmenschen beeinträchtigt, ja krank, und das bereits in jungen Jahren. Und nun der entscheidende Punkt: Unsere Gesellschaft ist in immer stärkerem Umfang bereit, dies verbreitete Unwohlsein, dies vor allem seelisch bedingte Leiden, die allgemeine Depression ob der unsicheren Identität und des so  unsteten Glücks, als Krankheit zu legitimieren. So gesehen, sind wir im 20. Jahrhundert, den vielen positiven Indikatoren zum Trotz, nicht gesünder geworden, werden vielmehr weiter immer kränker werden. Es sei denn, wir unterzögen unser emphatisch aufgeladenes Gesundheitsverständnis einer ernüchternden Korrektur.  Das aber ist eingebettet in Basisprozesse langfristigen gesellschaftlichen Wandels, die nicht willkürlich aufgehalten und partiell korrigiert werden können. Ich möchte deshalb mit der paradoxen Behauptung schließen, dass unser vermehrtes Leiden der Preis langfristig verbesserter durchschnittlicher Gesundheit ist.

 

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